November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.
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»Noel. Noel Forstschlag!« Eine vertraute Stimme erklingt. Sie wiederholt sich fortlaufend. Ich winde mich, öffne langsam die Augen und erblicke Mutter. Sie schaut mich panisch an.
»Mutter?« Meine Stimme hört sich schläfrig an.
»Noel! Endlich bist du wach. Du darfst mir doch nicht einen solchen Schrecken einjagen! Du bist ganz verschwitzt. Hattest du einen Alptraum?«
Verschwitzt? Ich schaue mich im Bett um. Es ist nass und mein Körper ist mit Schweiß bedeckt. An einen Alptraum erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, dass jemand nach mir gerufen hat – immer und immer wieder. Das war sicher Mutter. Mist! Was habe ich geträumt?
»Ich kann mich leider nicht erinnern.«
Das passiert mir fast immer. Nur ein einziges Mal habe ich einen Traum im Gedächtnis behalten. Stellux hat mit mir gesprochen! Das ist jetzt ein Jahr her. Er fragte damals, was ich mir am meisten wünsche. Meine Antwort kam schnell: Die Welt entdecken! Als er dann wissen wollte, was ich bereit sei, dafür zu geben, sagte ich: »Alles.«
Mit solch Äußerungen solle ich vorsichtig sein. Seine Antwort war damals: »Ziele und Wünsche dürfen niemals von einem Besitz ergreifen. Sie nähren sonst die Dunkelheit und bringen Leid zu all denen, die ihnen im Weg stehen.«
Seitdem erinner ich mich immer wieder an diese Worte. Niemals werde ich auf Kosten und Leid anderer meine Träume verwirklichen.
Natürlich sind Vater und Mutter traurig, wenn ich das Dorf verlasse. Aber ich werde zu ihnen zurückkehren und von meinen Geschichten erzählen. Ich bin mir sicher, dass sie das erfreut – zumindest Mutter. Vater würde zuerst eine langatmige Moralpredigt halten. Ich hätte Glück, dass ich bei all den Gefahren dort draußen nicht umgekommen sei. Daran bestände kein Zweifel.
Es spricht zu viel dafür, dass die Erwachsenen uns Kindern Gravierendes vorenthalten. Ich denke nur an all die Dinge, die wir benutzen, die aber nicht aus unserem Dorf stammen. Am liebsten wäre ich mit Anna auf den Bergen, die wir immer von der Dorflichtung aus sehen. Wenn wir dort oben angekommen sind, sieht man sicherlich die ganze Welt!
»Dein Vater möchte dich heute auf seinem Transportweg mitnehmen.« Mutter reicht mir meine Kleidung. »Heute Abend ist das große Dorffest. Er hat Valan versprochen, einige Waren vorab aus Istal zu holen. Dann können wir das Fest besser vorbereiten, bevor die Bewohner aus den beiden anderen Dörfern am Abend dazustoßen.«
Ich schaue sie entsetzt an. »Ein Transport bis nach Istal? Das ist mehr als die doppelte Strecke zum Holzfällerlager! Da sind wir bestimmt nicht vor heute Nachmittag zurück.« Verärgert werfe ich meine Klamotten auf das Bett.
»Du bist jetzt sechzehn Jahre alt Noel. Die Arbeit ruht an keinem Tag. Jeder im Dorf trägt seinen Teil dazu bei, damit es uns allen an nichts fehlt. Du hattest heute doch sowieso nichts anderes geplant, oder?«
Bei Stellux, ich kann ihr jetzt nicht die Wahrheit sagen. Anna tüftelt sicher längst an einem Plan, um Torwald zu befreien, sodass er uns heute aus dem Wald begleitet. Aber Lügen will ich auch nicht. Am besten ignoriere ich ihre Frage und stimme zu.
»Ich werde Vater bei seinem Transport helfen.«
»Sehr gut. Ich bin stolz auf dich.« Mutter schenkt mir eine Umarmung.
Ich ziehe mich an. Der Gedanke mit Vater den Tag zu verbringen ist besorgniserregend. Er ist sicher noch wütend. Doch in der Küche wartet keineswegs ein zorniges Gesicht.
»Bist du bereit, mein Sohn? Es ist ein schöner, sonniger Morgen und wir haben einen wichtigen Transport für die Dorfgemeinschaft zu erledigen.«
Damit habe ich nicht gerechnet. Mit voller Montur und strahlenden Augen schaut Vater zu mir. Er öffnet seine Arme und lächelt. War das Mutters Werk? Er wirkt wie ausgewechselt.
»Heute nehmen wir aber den Karren!«, fordere ich. »Sonst sind wir erst morgen wieder da, falls ich nicht ohnehin irgendwo auf dem Weg zusammenbreche.«
Er bricht in Gelächter aus. »In Ordnung, mein Sohn. Es wäre ohnehin zu viel zu tragen. Wir müssen auch noch eine Ladung Holz und einige Werkzeuge von Norbert nach Istal liefern. Dann sparen wir uns einen weiteren Weg und schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Das ist wahre Effizienz, mein Sohn.«
Bevor wir aufbrechen, ruft mich Mutter zu sich: »Noel, mein Lieber. Kannst du bitte noch diesen Brief zu Frau Weizenacker bringen? Sie wollte so gerne mal das Rezept für meine Gemüsesuppe haben. Grüße sie bitte auch schön von mir.«
»Natürlich, Mutter.«
Die Weizenackers sind die bekannteste Familie in Istal. Sie haben eine riesige Farm, auf der sie unterschiedlichstes Gemüse und Obst anbauen – und Weizen. Damit versorgen sie im Anschluss die komplette Dorfgemeinschaft mit Nahrung, genauso wie unsere Familie alle mit Holz versorgt.
Ich gehe zusammen mit Vater zum Lager neben dem Haus und wir laden das notwendige Holz auf den Transportkarren. Nach und nach beladen wir ihn, sodass er bis zum Rand voll ist.
»Das sollte genug sein.« Vater schmeißt einen letzten gespaltenen Stamm auf den Karren. »Wir müssen noch auf das Werkzeug warten. Norbert ist sicherlich gleich hier.«
»Viel mehr passt auch nicht rein. Ich bezweifle sogar, dass dort überhaupt noch Platz für Werkzeug ist.«
»Das Werkzeug ist nur ein Sack. Der passt noch hinein!«
Während ich den Optimismus von Vater genauer am Karren überprüfe, ertönt eine Stimme: »Einmal ein Sack frische Werkzeuge wie bestellt.«
Es ist Anna! Ich drehe mich zu ihr um und schaue in ihr lächelndes Gesicht. Hinter ihr ist Hannelore, ihre treue Begleiterin, zu sehen. Sie trägt auch heute wieder eines ihrer Kleider. Dieses hier ist einfarbig in einem hellen Grün.
»Hachjaaa, was für ein wundervoller Tag.« Sie dreht sich einmal im Kreis und genießt dabei die Sonnenstrahlen und die leichte Brise. Dann hält sie den Sack in ihrer Hand hoch und kommt auf uns zu. »Tadaaa, schöne Grüße von meinem Vater.« Mit einem kräftigen Ruck schmeißt sie das verstaute Werkzeug auf den Karren. Das Metall klimpert laut auf und sie verbeugt sich vor uns. »Bitte sehr, die Herren. Damit die Ware auch am Zielort ankommt, werde ich euch natürlich begleiten.«
»Das kommt gar nicht in Frage!« Vater erhebt blockierend seine Hand. »Transportarbeiten sind etwas für Männer. Du bist auch gar nicht dafür gekleidet, um den Wald zu durchqueren. Schon gar nicht mit diesem Federvieh!«
»Ooooh doch, Herr Forstschlag.« Anna hebt ihren Zeigefinger und grinst. »Spezialauftrag von Herrn Brenshar höchstpersönlich. Ich soll ihm einen schönen Blumenstrauß aus Istal besorgen, damit wir am heutigen Dorffest den Verstorbenen gedenken können. Das Grab von meiner Mutter sieht schrecklich aus. Wenn das ein Problem ist, sollten sie das mit ihm besprechen.«
Sie pausiert ihre Ansprache einen Moment und neigt ihren Kopf zur Seite. »Ist es ein Problem?«
Meinem Vater ist anzusehen, dass ihm diese Sache missfällt. Aber Anna hat ihn genau an dem Punkt erwischt, an dem ihm keine Wahl bleibt. Eine Bitte von Valan Brenshar höchstpersönlich.
»Nein. Dann geht es natürlich in Ordnung«, nuschelt er vor sich hin.
Ob sie das alles geplant hat? Sie muss es geplant haben. Es ist schließlich Anna Funkenblitz. Ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen.
Sie klatscht mehrfach die Hände über ihrem Kopf zusammen. »Na dann. Worauf warten wir noch? Hopp Hopp!«
Als sich unsere Blicke kreuzen, zwinkert sie mir zu. Mein Vater sichert die Ware mit einigen Seilen und bewegt sich zum Frontgriff des Karrens. Es geht los.
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