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17

Dorffest

Ein Kapitel aus dem Buch

 November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.

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Die Nacht bricht herein und das Dorffest beginnt jeden Moment. Anna und ich sind kurz vor Nikas Höhle. Wir sind den Weg von den Mastar-Ruinen so schnell wie möglich zurückgerannt.
»Dort ist Nika! Ist sie verletzt?« Anna eilt zum Höhleneingang.
Die Dryade sitzt auf dem Boden und atmet schwer. Die Wölfe sitzen im Kreis um sie herum.
Anna holt die Phiole aus ihrer Tasche. »Wir haben es geschafft! Wir haben das Wasser aus der Mastar-Quelle!«
Nika erhebt ihren Kopf und starrt ungläubig auf die Flüssigkeit. »Was? Ihr habt sie wirklich gefunden? Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass ich gerettet werde. Schnell, Kinder, schnell! Gebt mir das Wasser!«
Anna reicht Nika die Phiole. Dieses Mal trinkt sie es, anstatt es über ihre Wurzeln zu gießen.
»Es wirkt! Ich fühle, wie mein Körper langsam wieder zu Kräften kommt, aber es wird eine Weile dauern. Diese Zeit haben wir nicht. Galvanna ist bereits hier. Der Wald sagt es mir.«
»Sie sind hier?«, frage ich. »Warum? Was wollen sie von unserem Dorf?«
»Dies ist nicht die Zeit für Fragen, Kinder. Ihr müsst zurück und alle warnen. Jetzt! Erreichen sie das Dorf vor euch, ist es für immer verloren. Glaubt mir! Ich werde zu euch stoßen, sobald ich meine Kräfte wiederhabe.«
Ich schaue Anna unsicher an. Sie nickt mir entschlossen zu. »Wir werden es schaffen! Los Noel! Auf zum Dorf!«
Wir rennen sofort los. Die Füße sind schwer. Der Transport nach Istal und die Erlebnisse in den Ruinen kosteten viel Kraft. Tief im Inneren höre ich die Stimme von Vater in meinem Kopf. Reiß dich zusammen, Noel! Du bist ein wahrer Forstschlag! Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen und überwinde den andauernden Schmerz meiner Beine.
Wir erreichen die Kreuzung. Anna und ich halten einen Moment inne und holen tief Luft. Die Sonne spendet dem Wald nahezu kein Licht mehr. Umso verwunderlicher ist eine auffällig starke Lichtquelle aus der Richtung des Valan-Pfades, die wir noch nicht erforscht haben. Das grelle Licht bewegt sich schnell durch den Wald und schwenkt dabei und und her.
»Ist das Galvanna?«, frage ich Anna.
»Wir müssen uns beeilen.« Sie rennt weiter in Richtung Dorf. Es ist ihr anzusehen, dass auch ihre Kraftreserven ausgeschöpft sind.
Aus der Ferne höre ich die Stimmen der Dorfbewohner. Der Dorfplatz ist mit Fackeln versehen und hell erleuchtet. Das Dorffest hat begonnen.
»Wie gehen wir am besten vor?«, frage ich Anna. »Sie sind alle lautstark am feiern. Wie bekommen wir ihre Aufmerksamkeit?«
»Wir teilen uns auf und suchen unsere Väter. Sie glauben uns hoffentlich!«
»Ok. So machen wir es!« Vater wird alles andere als begeistert sein. Besonders, wenn ich ihm erzähle, wie wir das Ganze erfahren haben. Ich hoffe, dass er es versteht.
»Danach besorge ich den Schlüssel von Valan«, fügt Anna hinzu. »Wir treffen uns dann an der Kirche, um Torwald zu befreien. Er wird uns bestimmt helfen.«
»Dann mal los!«, sage ich und wir laufen zu der Menge auf dem Dorfplatz.
Es wird gelacht, getrunken und gefeiert. Die Geräusche und das geringe Licht erschweren es, Vater zu finden. Der Duft von saftigem Fleisch und anderer Leckereien gelangt in meine Nase, sodass der Magen knurrt. Doch für Essen ist keine Zeit.
Ich rufe ununterbrochen den Namen von Vater und Mutter. »Habt ihr meine Eltern gesehen?«, frage ich immer wieder in die Menge. Aber es ist zu laut. Nur wenige reagieren und schütteln ahnungslos den Kopf. Ich drängele mich weiter durch die Schar an Menschen. Es sind alle hier. Frau Hammelblatt winkt mir aus der Ferne zu. Familie Weizenacker ist mit ihren Kindern aus Istal gekommen. Wolfgang tadelt Willy und Winfried, die sich um das Essen streiten. Wilhelmine versorgt die hungrigen und durstigen Mäuler an der langen Tafel. Doch Mutter und Vater sind nirgends zu sehen! Wo sind sie bloß?
Ich halte kurz inne und schaue mich um. Anna ist auch verschwunden. Ob sie Norbert oder Valan gefunden hat?
Auf einmal ertönt ein Knall in der Ferne. Niemand reagiert. Wieso? Hat es keiner gehört? Das Geräusch kam von unserem Zuhause. Sind Vater und Mutter dort? Ist etwas passiert? Eilig renne ich los, um nachzusehen. Es scheint Licht.
Schreie! Panisch schallen sie durch die Dunkelheit. Aber nicht vom Haus. Sie kommen vom Dorfplatz! Was? Es ist plötzlich taghell. Ich drehe mich um und sehe zurück. Es brennt! Das Dorf steht in Flammen! Der Rückweg ist von einer Feuerwand versperrt. Nein! Sind wir etwa zu spät?
Dunkle Gestalten tauchen aus dem Schatten auf und nähern sich dem Dorf. Das Feuer und der Rauch versperren mir die genaue Sicht. Ich erkenne nichts. Nur Hilferufe hallen durch die flackernde Nacht. Bei Stellux! Das darf nicht wahr sein! Was mache ich jetzt?
Ich schließe die Augen. Das hat bei dem Ignaeria auch geholfen. Mit dem Unterschied, dass Anna nicht bei mir ist. Anna! Wo ist sie? Ich muss zu ihr! Bevor ich loslaufe, höre ich einen weiteren Schrei. Er kommt aus unserem Haus. Schrill und voller Verzweiflung. Mutter! Ich eile zur Tür und schleiche mich hinein.
Der Eingangsbereich ist verwüstet. Überall liegt zerbrochenes Geschirr auf dem Boden. In der Mitte sind zwei unbekannte Männer mit seltsamer Kleidung. Sie tragen eine dicke, schwarze Weste mit kleinen Taschen um die Brust. Unter ihr sehe ich ein dunkelgrünes Oberteil und eine Hose aus Stoff. An der Hüfte umringt sie ein dunkelblauer Gurt, der Platz für einige Gegenstände bietet. Ich sehe ein Messer.
Sie schauen mit ihren lilafarbenen Augen in unsere Strohecke. Dort liegt Vater. Regungslos. Daneben seine Axt, Judy. Mutter umarmt ihn und schluchzt. Das Stroh hat eine rote Farbe. Nein! Ich schlucke schwer und die Hände zittern. Meine weit aufgerissenen Augen werden mit Tränen geflutet. Die Muskeln verkrampfen. Ein stiller Schrei in meinem Kopf. Vater!
»Ich denk, der hätte mich fast erwischt«, sagt einer der fremden Männer. Er dreht sich und zeigt seinen Hals, der eine tiefe Wunde enthält, aus der ohne Unterbrechung Blut fließt.
»Ich weiß, lass uns das schnell erledigen, bevor das Leben in diesem Körper erlischt.« Der zweite Mann schaut zu Mutter. Er hält etwas Kleines aus Metall in der Hand. Mit gestrecktem Arm richtet er es auf sie. Ist das eine Waffe? Sie ist stumpf. »Ich weiß, du solltest jetzt damit rausrücken, wo der Junge ist.«
»Ich denk, sonst liegst du gleich neben deinem Liebsten, du vergisst!«
Mutter schaut tränenüberströmt in die Augen der Fremden. »Ihr habt ihn getötet! Wieso?« Ihre Stimme ist voller Verzweiflung. So habe ich sie noch nie gehört. Meine Haut kribbelt. »Ich dachte, es geht euch darum, dass wir helfen. Was wollt ihr von unserem Sohn?«
In diesem Moment sieht mich Mutter an der Tür. Ich halte meinen ausgestreckten Zeigefinger an den Mund. Sie schüttelt den Kopf. Soll ich etwa nicht eingreifen? Doch! Ich lasse sie nicht im Stich! Ich greife zu dem Messer, das mir Vater gegeben hat, und umklammere schweißgebadet den Griff.
Die Männer schauen sich gegenseitig an und ich schleiche mich um unseren Küchentisch, um nicht in ihr Sichtfeld zu geraten. Meine Atmung ist schnell. Trauer. Verzweiflung. Wut. Hass! Ich halte den Griff des Messers so fest wie möglich.
»Ich denk, sie hat keine Ahnung wer wir wirklich sind.«
»Ich weiß, wir könnten es ihr sagen. Aber wir haben keine Zeit. Geschwind!«
»Ich denk, wenn der Feuerrote kommt, ist es mit diesen Körpern geschehen.«
»Ich weiß, wir sollten schnell gehen! Also sag schon, wo hast du den Jungen zuletzt gesehen?«
»Ihr werdet ihn nie bekommen. Stellux persönlich schützt seinen Pfad.« Mutter schließt ihre Augen.
»Ich denk, Stellux ist zu spät.« Ein teuflisches Lachen erklingt.
»Ich weiß, die Dunkelheit ist gesäät.«
Ihre Sprache und ihre Mimik wirken unmenschlich. Wer sind diese Fremden? Ich lauere jetzt direkt hinter ihnen.
»Ich denk, sie wird es uns nicht sagen.«
»Ich weiß, wir töten sie und suchen den Blagen.«
Nein! Das werde ich verhindern. Doch die Angst lähmt mich. Jede Bewegung kostet weitaus mehr Kraft als sonst. Ich schließe die Augen und atme tief durch. Oh Stellux, bitte! Mutter braucht meine Hilfe! Schenke mir Stärke und verzeih mir diese grausame Tat, die ich plane! Es gibt keinen anderen Weg.
Jetzt! Ich springe auf und ramme mein Messer in den Hals des Unbekannten.
Mutter schreit auf. »Noel! Nein!«
Es herrscht kurz Stille. Ich habe einen schmerzlichen Schrei erwartet, einen Körper, der in sich zusammenfällt. Stattdessen dreht sich der Kopf des Fremden in meine Richtung. Er grinst und starrt mich mit aufgerissenen Augen an. Sie leuchten in einem lila Licht.
»Ich weiß, ich hab ihn gefunden!«, sagt er.
Ich bin wie gelähmt. Wie ist das möglich? Ein Treffer am Hals in dieser Tiefe sollte eine schwere Verletzung erzeugen. Sind diese Fremden etwa keine ... Menschen?
Ich weiche entsetzt einen Schritt zurück, doch der zweite Mann greift mich an den Armen. Er hat einen festen Griff und zieht sie hinter meinen Rücken.
»Ich denk, das ist er.«
»Ich weiß, sein Blut muss her. Geschwind! Bevor diese Hülle ist leer.« Das Messer steckt noch immer in seinem Hals. Er richtet die fremde Waffe auf mich.
Ich schaue zu Mutter hinüber. Sie weint.
»Tut mir leid. Ich habe versagt«, schluchze ich.
Wir sind zu spät gekommen. Ich schließe kraftlos die Augen. Sind die Anderen bereits tot? Ich höre von draußen nur noch das Knistern des Feuers. Anna? Geht es dir wenigstens gut?
Oh Stellux, warum hast du uns nicht geholfen? Ich verstehe das nicht. Wieso endet es hier?
Ein Knall ertönt. Er ist so laut, dass meine Ohren schmerzen. Bin ich gestorben? Ich öffne die Augen. Vor mir steht Mutter mit ausgestreckten Armen. Ihr weißes Kleid wird nach und nach in ein dunkles Rot getaucht.
»Es gibt immer Hoffnung. Egal wie dunkel es scheint. Das Licht verdrängt jede Dunkelheit. Glaube daran, mein Sohn.« Sie fällt auf die Knie.
»Mutter! Nein! Warum hast du das getan!«, schreie ich und reiße mich von dem Fremden los, um sie zu umarmen.
»Weil ich dich liebe«, flüstert sie mir mit ihren letzten Kräften in das Ohr. »Vertraue dem Feuer. Es schützt dich und leitet deinen Weg. Stellux hat es mir selbst gesagt.«
Ich spüre, wie ihre Lebenskraft entschwindet. Tränen schmücken meine Wangen. Schnodder sammelt sich in der Nase. Blut besudelt meine Hand. Ich schlucke einen Kloß herunter, so groß, dass ich fast an ihm ersticke. Sie ist tot.
Mutter ist tot.
»Ich denk, sie hat sich geopfert.«
»Ich weiß, das ist diese Liebe, die ein Mensch im Kopf hat.«
Ich halte Mutter in meinen Armen. Sie ist regungslos. Sie ist tot. Eine endlose Leere; ein Schwall schlagartiger Verzweiflung. Er zieht sich wie eine Schlinge um den Hals. Mutter hat ihr Leben für mich geopfert. Warum? Wenn auch ich nun sterben werde?
Es gibt immer Hoffnung, egal wie dunkel es scheint.
Oh Stellux, ich flehe dich an ... beweise es!
Ein weiterer Knall ertönt. Er klingt nicht wie zuvor. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und schaue zur Eingangstür. Jemand hat sie mit Gewalt aufgetreten. Ein Mann tritt ein. So groß, dass er sich duckt, um in das Haus zu kommen. Er hat ein rotes und ein blaues Auge. Ich kenne ihn nicht. Er ist nicht aus dem Dorf. Wer ist das?

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