November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.
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Unser Haus ist kein großer Fund für einen Entdecker. Es besteht vollständig aus Holz und ist nahezu rechteckig geformt. Genauso wie annähernd jedes andere Haus in unseren Dörfern. Um die Wärme im Inneren zu halten, sind die Holzwände mit einer kräftigen Schicht Stroh gedämmt. Es ist aber nie kalt im Westwald. Die Temperaturen sind angenehm.
Wir öffnen die Tür zu unserem Haus. Ein warmer Luftzug kommt uns entgegen und wir treten in den trockenen Wohnbereich ein.
»Da seid ihr ja endlich! Ich habe heute doch extra die Gemüsesuppe gemacht.« Mutter schenkt Vater einen strengen Blick. Dann wandern ihre blaue Augen zu mir und ihre Mimik wird weicher.
Ich lächle sie erschöpft an und atme tief ein. Der würzige Geruch der anstehenden Mahlzeit breitet sich in meiner Nase aus und ich merke, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich liebe diese Suppe. Es ist angeblich ein Geheimrezept der Familie.
»Wie siehst du überhaupt aus Noel? Lars! Ich habe dir doch gesagt, du sollst es am ersten Tag nicht übertreiben!« Sie kommt mit ihrem langen, beigen Kleid auf mich zu, das sie unter ihrer blauen Weste trägt. Nach einer kräftigen Umarmung richtet sie mein blondes, zerzaustes Haar. Die Farbe habe ich von Mutter.
»Selena. Der Junge kann das ab. Er ist jetzt ein wahrer Forstschlag!« Vater wirft seine nasse Kleidung auf die Hängeleine im Eingangsbereich.
Ich folge seinem Beispiel und setze mich an unseren Esstisch. Mit einem Finger gleite ich über das glatte Holz. Vater hat es erst neulich frisch geschliffen.
»Er wollte unbedingt, dass wir alles ohne Karren in das Dorf tragen. Darum hat es so lange gedauert.«
»Wie bitte? Du hast den armen Jungen das Holz auf seinem Rücken schleppen lassen? Du musst es auch immer übertreiben!«
»Wie gesagt, der Junge kann das ab. Er ist ein wahrer Forstschlag. Jetzt lass uns endlich etwas essen. Ich verhungere hier noch.« Vater nimmt Platz und macht sich eine Kelle Suppe auf den Teller. Ein weiteres Mal folge ich seinem Beispiel.
»Mutter, soll ich dir auch etwas auftun?«
»Gerne, mein Sohn!« Sie reicht mir ihren Teller.
Wir genießen alle gemeinsam schweigend das köstliche Mahl, bis Mutter nach einiger Zeit das Wort ergreift: »Lars, ich habe den Brief gelesen. Wir müssen unbedingt noch einmal sprechen. Selbst wenn du nicht zustimmst, sollten wir wenigstens Noel endlich mehr erzählen, findest du nicht?«
Vater verschluckt sich und antwortet: »Wie bitte? Auf gar keinen Fall! Wir haben alle zusammen beschlossen, dass wir warten, bis die Kinder achtzehn Jahre alt sind.«
»Worum geht es? Was wollt ihr mir erzählen?«, werfe ich verwirrt in den Raum. »Wollt ihr mir etwa endlich erzählen, was sich außerhalb des Waldes befindet? Darf ich es sehen?«
Ich spüre, wie mein Herz vor Aufregung schneller schlägt. Ist es jetzt so weit? Doch Vater haut schlagartig auf den Tisch, wodurch seine Suppe fast vom Teller läuft.
»Selena, jetzt fängst du ebenfalls damit an. Es reicht mir schon, dass der Vater von Anna den Kindern Unfug erzählt«, nuschelt er mit Gemüsesuppe im Mund.
»Was? Norbert hat etwas erzählt? Weiß es Anna etwa schon?« Mutter wirkt überrascht.
»Nein! Natürlich nicht! Davon gehe ich jedenfalls aus! Er hat erzählt, dass es Menschen außerhalb des Waldes gibt. Ich weiß nicht, wie er zu so etwas kommt. Ich werde gleich mit ihm sprechen, wenn ich Noel zu Anna bringe.«
»Wir haben so lange gewartet. Die Kinder haben verdient, es langsam zu erfahren.«
»Ja! Wir haben es verdient!«, unterstütze ich sie.
»Selena! Nein! Diese zwei Jahre wird der Junge jetzt auch noch durchhalten.«
»Das werde ich bestimmt nicht mehr durchhalten. Ich will endlich wissen, was es dort draußen alles gibt! Warum solltet ihr damit zwei Jahre warten? Das macht gar keinen Sinn!«
»Du willst wissen, was es da draußen alles gibt?« Vaters Stimme wird lauter und er starrt mich mit zornigen Augen an. »Bitte! Stell dir einfach das Schlimmste vor!«
Er erhebt sich und läuft mit kleinen Schritten im Wohnbereich hin und her. Dann führt er seine Ansprache fort: »Es ist weitaus schrecklicher. Hier im Dorf ist dein Zuhause. Hier hast du Frieden, Freunde, eine Gemeinschaft, Nahrung – alles, was ein Mensch zum Leben benötigt. Ich ertrage dieses ewige Verlangen nach der Außenwelt nicht mehr.«
Vater verschwindet schlussendlich in einem der Hinterzimmer. Schrecklich? Was meint er damit? Verunsichert frage ich bei Mutter nach: »Stimmt das?«
Sie schaut mir tief in die Augen und lächelt: »Dein Vater übertreibt ein wenig. Schrecklich ist das falsche Wort. Sie ist definitiv anders als alles, das du dir vorstellen kannst, Noel. Aber die Götter haben dich gesegnet. Ich bin mir sicher, dass du allen Gefahren und Versuchungen standhalten wirst, die dort auf dich lauern. Du bist noch jung und wirst noch viele eigene Entscheidungen treffen – auch falsche. Das bringe ich deinem Vater noch bei. Für den Moment lassen wir es besser ruhen.«
Ich gebe mich mit einem zustimmenden Ton zufrieden und räume das Geschirr in den Küchenbereich.
»Heute mache ich den Abwasch. Ruh du dich aus, Mutter.«
»Du bist zu gut zu mir, Noel. Ich danke dir sehr.«
Während sie sich auf unsere gemütlichen Strohballen in der Wohnecke legt, begebe ich mich mit einem Eimer auf den Weg zum Wasserspeicher. Er ist direkt neben dem Haus. Ein Behälter aus Eisen und anderen Arten von Metallen, der vor jedem Haushalt im Dorf steht. Er sammelt das Regenwasser auf und filtert es im Anschluss, sodass es trinkbar wird. Anna sagt immer, dass sonst zu viele Keime und schädliche Inhaltsstoffe im Wasser sind. Wie der Wasserspeicher sie entfernt, ist aber selbst Anna unbekannt. Er wird nicht in unserem Dorf hergestellt.
Einmal hat sie geplant, einen zu zerlegen, doch sie wurde von ihrem Vater Norbert dabei erwischt. Anna und ich wollen unbedingt herausfinden, woher der Speicher stammt.
Nachdem ich mich um den Abwasch gekümmert habe, gehe ich auf mein Zimmer.
»Noel! Wir müssen bald los. Ruhe dich nicht zu sehr aus«, ruft Vater von nebenan. Ich nicke ihm zu und lege mich im Zimmer auf mein Bett.
Hier gibt es nicht viel zu entdecken. Ich lege mich auf das hölzerne Bett, das mit einer Schicht Stroh bedeckt ist, und blicke auf den deckenhohen Schrank gegenüber. Daneben steht unter einem Fenster der kleine geschmiedete Eisentisch von Norbert, zusammen mit einem alten, klapprigen Stuhl. An dem Tisch habe ich immer meine Schularbeiten erledigt. Die Zeiten sind jetzt vorbei, da wir ab dem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr zur Schule gehen.
Wie erwähnt, beginnen wir ab diesem Alter damit, unseren Eltern bei der Arbeit zu helfen. Zum einem bin ich froh, dass ich Frau Hammelblatt nicht mehr nahezu jeden Tag erlebe. Zum anderem bin ich aber traurig, dass ich nicht täglich etwas Neues lerne.
Im Vergleich zu Anna fühle ich mich aber gut. Sie ist schon so weit, dass sie sich selbstständig Hausaufgaben ausdenkt, um das Gefühl der Schule aufrecht zu erhalten. Speziell im Rechnen ist sie unschlagbar.
»Noel, bist du soweit? Wir müssen los, sonst kommst du zu spät.«
»Ich komme, Vater.«
Langsam erhebe ich mich vom Bett und kehre in den Wohnbereich zurück. Dort sehe ich Mutter, die erschöpft auf den Strohballen in der Ecke liegt.
»Bis heute Abend, Mutter.«
»Bis heute Abend, Noel. Schöne Grüße an Norbert und Anna von mir.«
Mutter hebt geschwächt ihre Hand. Seit ein paar Wochen geht es ihr nicht sonderlich gut. Ich habe sie schon häufiger nach ihrem Wohlbefinden gefragt, aber sie meint, dass sie in letzter Zeit nur schlecht schläft. Das würde im Alter mal vorkommen.
Seitdem habe ich ihr versprochen, dass ich jeden Abend einmal für sie unseren Lichtgott anbete. Er ist der Gott des Friedens und der Heilung. Sein Name ist Stellux. Doch bisher habe ich mit meinen Gebeten noch keine großen Erfolge erzielt.
Mutter sagt immer, dass manches unveränderbar und vorherbestimmt sei. Es diene einem größeren Zweck und sei nicht beeinflussbar. Ob ihr Schlafproblem dazugehört? Ich frage sie am besten zu einem günstigeren Zeitpunkt noch mal näher aus. Jetzt ist Zeit für Anna. Ich freue mich auf sie.
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