November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.
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Langsam stapfe ich mit meinen Stiefeln über den schmalen, bewachsenen Weg vor mir. Er ist vom Regen aufgeweicht und ich bin mit Vater unterwegs, um Holz in unser Lager im Dorf zu bringen. Wir brauchen es für das alljährliche Dorffest.
»Noel! Etwas schneller bitte! Du träumst doch schon wieder. Wir sind bereits zu spät und du weißt, wie deine Mutter reagiert, wenn das sorgfältig vorbereitete Essen kalt wird. Es ist schließlich schon Mittag«, ruft mir mein Vater zu. Er ist ein Stück weiter vorne.
»Ja, ich komme schon!« Mit einem tiefen Atemzug genieße ich die frische, klare Waldluft nach dem Regen. »Der Boden ist zu weich. Ich habe das Gefühl, zu versinken, mit dem ganzen Holz auf meinem Rücken.«
Vater steht mit seinem rot-schwarz karierten Hemd und dunkelgrüner Hose ungeduldig vor mir. Ihn stört das zusätzliche Gewicht nicht. Durch seine tägliche Arbeit im Wald hat er im Gegensatz zu mir eine kräftige Statur. Er ist der Holzfäller des Dorfes und für die Holzversorgung zuständig.
Da ich vor einigen Tagen sechzehn geworden bin, habe ich jetzt die Pflicht, ihn dabei zu unterstützen. Mit diesem Alter erreichen wir die Volljährigkeit und sind eine neue Arbeitskraft für die Gemeinschaft. Das Leben eines Holzfällers ist so langweilig! Es ist nicht einmal eine Woche vergangen und ich habe schon keine Lust mehr.
Ich schließe zu Vater auf und lausche den Geräuschen des Waldes. Vögel zwitschern melodisch und das Laub raschelt.
Bei Stellux, wie gerne wäre ich ein Entdecker, der durch die Welt reist. Es gibt sicher unzählige Tiere, Pflanzen und fremde Orte dort draußen! Doch Vater erlaubt es mir nicht. Mein ganzes Leben verbrachte ich bisher in unserem Dorf.
»So einen starken Regen haben wir schon lange nicht mehr gehabt.« Der Finger meines Vaters wandert in den matschigen Waldboden, bis er fast vollständig verschwindet. »Der Weg mag schwer begehbar sein, aber die Wasserspeicher im Dorf sind jetzt wieder gefüllt. Die Medaille hat immer zwei Seiten, mein Sohn.«
Er lächelt mich an. Belehrende Sprüche sind seine Spezialität. Es scheint, er würde nur darauf warten, mir die nächste Lebensweisheit beizubringen. Wichtig dabei: sie wird mit ›mein Sohn‹ beendet.
Aber bei einer Sache sind seine Lippen fest verschlossen. Wenn es um das geht, was außerhalb des Waldes liegt.
Mein Heimatdorf heißt Valan und ist nach dem Ratsoberhaupt benannt: Valan Brenshar. Es gibt aber noch zwei weitere Dörfer. Sunas und Istal. Auch sie haben ihre Namen von Ratsoberhäuptern: Istal Brenshar und Sunas Brenshar. Sie sind alle drei Brüder – Drillinge, um genau zu sein.
Alle Dörfer liegen in diesem Wald. Wir nennen ihn den Westwald, wobei ich mich frage: »Wenn das der Westwald ist, was befindet sich dann östlich von ihm? Der Ostwald? Oder doch etwas ganz anderes?«
Das Einzige, was ich außer dem Wald erblicke, sind die Berge, welche sich von unserem Dorf aus über die Baumkronen erstrecken, und das Meer im Westen. Ich stelle mir oft die Frage, ob es andere Menschen außerhalb des Waldes gibt. Das erfahre ich aber erst an meinem achtzehnten Geburtstag – vorher bin ich zu jung. Diese zwei Jahre halte ich nicht mehr aus.
Wir Jugendlichen haben häufiger versucht, uns auf einem der Pfade aus dem Wald zu schleichen. Ein Ende war bisher nicht in Sicht. Der sogenannte Valan-Pfad ist im Nordosten des Dorfes. Die Erwachsenen benutzen diesen Weg und kehren mit Nahrungsmitteln und anderen Gegenständen wieder. Es ist für uns eine Mutprobe, den Pfad zu erkunden. Wenn sich jemand nicht mehr weiter wagt, legt er Steine am Wegesrand ab. Ich baue aus meinen immer eine Sonne.
Aktuell führe ich und habe es bis zu dem Punkt geschafft, an dem sich der Pfad mit einem anderen Weg schneidet. Da ich damals schon eine Weile unterwegs war und es dämmerte, habe ich mich entschlossen, umzukehren. Beim nächsten Mal werde ich es aber schaffen. Ich muss nur etwas früher losgehen.
Der komplizierte Teil ist, dass die Erwachsenen davon nichts mitbekommen. Meine Eltern geben mir Hausarrest, wenn sie von der Mutprobe hören. Vater ist bei dieser Sache streng. Ich habe das Gefühl, dass er mein unaufhaltsames Interesse an der Welt da draußen bemerkt hat. Ich frage ihn dazu häufig. Eine zufriedenstellende Antwort erhalte ich leider nie. Das erinnert mich daran, dass ich ihn länger nicht darauf angesprochen habe.
»Sag mal, Vater, woher kommt die Kohle und das Eisen, das der Vater von Anna immer in seiner Schmiede verwendet?«
»Nicht schon wieder Noel! Ich habe dir doch schon oft genug gesagt, dass du dich noch gedulden musst. Erst mal lernst du die Grundlagen für die Mitarbeit im Dorf.«
Genau wie erwartet. Ich hoffe, die Götter verzeihen mir die folgende kleine Lüge. »Der Vater von Anna meint, es kommt von den Menschen hinter dem Wald. Sie leben in den Bergen, die man vom Dorf aus erkennen kann.«
Vater bleibt sofort stehen, starrt mich entsetzt an und sagt: »Er hat WAS gesagt? Hör nicht auf so ein Gerede! Sei einfach geduldig, dann erzähle ich dir bald alles. Glaube mir, das ist nur zu deinem Besten! Wir gehen nach dem Essen noch zu Anna. Ihr habt euch doch verabredet, oder? Da werde ich mal mit ihrem Vater darüber sprechen. Dir einen solchen Unsinn zu erzählen ist nicht in Ordnung.«
Vater schüttelt den Kopf und stapft weiter durch den matschigen Boden. Das Treffen mit Anna habe ich fast vergessen. Der Abschied von Hannelore steht bevor. Sie ist eine Azurosa und wird morgen auf dem Dorffest zubereitet. Das sind kleine, bunte Vögel, die wir bei uns im Dorf züchten. Wir haben Hannelore seit ihrer Geburt gepflegt und unsere Eltern angefleht, dass sie nicht geschlachtet wird. Aber Wölfe haben vor kurzer Zeit viele Vorräte geplündert und dabei Nutztiere getötet.
Torwald, unser Jäger, nimmt sich heute des Problems an. Wir nennen ihn den "Wolfsflüsterer". Er kennt als Einziger ihren Bau und bringt dem Rudel Nahrung, wodurch sie uns eine Weile in Ruhe lassen. Erstaunlich, wie er diese Tiere im Griff hat. Einen hat er schonmal mit in das Dorf gebracht. Ratsoberhaupt Valan war nicht erfreut und hat es ihm direkt verboten. Dabei hatte der Wolf extra einen ledernen Maulkorb. Anna hat ihm sogar über das Fell gestreichelt.
Sie ist meine beste Freundin und wir kennen uns schon seit der Geburt, da wir bis auf zwei Monate gleichalt sind. Während ich die Welt da draußen entdecken will, ist sie eher darauf fokussiert, sie bis in das kleinste Detail zu verstehen. Ihr Durst nach Wissen kennt keine Grenzen. Gemeinsam haben wir das Ziel, aus dem Wald zu entfliehen und mehr von der Welt zu sehen.
»Und da sind wir schon«, sagt mein Vater und streckt sich. »Ich hoffe wir kommen noch rechtzeitig.«
Wir haben die Dorflichtung fast erreicht. Der Dorfplatz in der Mitte ist mittlerweile erkennbar. Daneben steht das Wirtshaus. Dort treffen sich die Erwachsenen häufig am Abend und erholen sich von dem langen Arbeitstag. Es ist der Treffpunkt für die Ratssitzungen, in denen sie Entscheidungen für die Zukunft des Dorfes fällen. Den Kindern ist die Teilnahme nicht gestattet. Sie stellen sogar Wachen auf, damit wir nicht lauschen.
Neben dem Wirtshaus ist die Kirche. Der Glaube und die Religion ist ein weiterer, wichtiger Aspekt im Dorf. Meine Mutter unterweist mich täglich in der Lehre der Götter. Sie wachen über uns und schenken Kraft in der Not. Anna und Vater sind davon nicht überzeugt. Meine Überzeugungsarbeit hat bei beiden bisher leider keine Früchte getragen. Es ist so schwer, ihnen das zu erklären, da sie für alles einen Beweis benötigen. Aber wie schaffe ich das? Wie belege ich, dass ich die Götter fühle oder von ihnen träume?
Im Dorf angekommen, biegen wir direkt auf den Rundpfad ab. Er umkreist es und die meisten Wohnhäuser sind an ihm platziert. Am Rand gibt es eine Vielzahl von Fallen, die uns vor gefährlichen Tieren schützen. Es sind Stolperfallen, die bei Berührung Geräusche erzeugen, und Fallgruben, welche nicht immer funktionieren, wie der Vorfall mit den Wölfen im Stall gezeigt hat. Manche sind mit Holzpfählen ausgestattet und nicht ungefährlich. Bisher ist aber niemandem etwas passiert. Die Erwachsenen sind wie immer wachsam und vorsichtig.
Wir haben es, zur Freude meines gesamten Körpers, geschafft. Ich sehe das Lager vor uns. Es steht direkt neben unserem Haus und die Löcher im Dach sowie einige gebrochene Balken weisen darauf hin, dass eine Sanierung mehr als überfällig ist. Davor liegt eine Vielzahl an Holz in den unterschiedlichsten Formen. Es blockiert uns fast vollständig den Weg. Mit gezielten Schritten bahne ich mir einen Pfad durch die Holzberge und erreiche die selbgeschnitzte Eingangstür. Mein Vater hat seit einigen Jahren die komplette Ordnung in seinem Lager verloren, sodass er tagtäglich sein Werkzeug sucht. In den nächsten Wochen plant er endlich, das Chaos zu beseitigen. Ich soll ihn dabei unterstützen. Oh, wie viel lieber wäre ich auf einer Wanderung, um neue Sachen im Wald zu entdecken.
Das Schönste, was ich bisher aufgespürt habe, sind die Herzblattbäume. Ihre Krone ist wie ein Herz geformt und wird von einem eingedrehten, braunen Stamm getragen. Mein Vater flucht gerne über sie, weil sie schwer zu fällen sind. Dafür ist das dazugehörige Herzblattholz stabil und perfekt für den Bau geeignet. Es bleibt selbst bei Regen trocken und weicht nicht auf. Die Blätter des Herzblattbaumes sind ebenfalls in einer grünen Herzform und zu allem Überfluss ist die schwarze Pikfrucht wie ein umgekehrtes Herz geformt. Sie hat eine desinfizierende Wirkung bei Wunden und beschleunigt den Heilungsprozess.
Auch Anna ist fasziniert von diesem Wunderwerk der Natur. Es gibt in der Welt dort draußen aber sicher noch viel Weiteres zu erkunden.
»Wir haben es geschafft Noel. Ich bin stolz, dass du so gut durchgehalten hast. Ich nehme dir das Holz gleich ab. Beim nächsten Mal nehmen wir den Karren, dann ist der Transport einfacher.« Ein breites Grinsen entsteht auf dem Gesicht meines Vaters.
»Warum haben wir dann den Karren heute noch nicht benutzt?« Ich schnappe nach Luft und schaue ihn empört an.
»Das wäre doch langweilig. Beim ersten Mal wollte ich, dass du fühlst, wie unsere Vorfahren damals Holz transportiert haben. Du willst doch immer ein Entdecker sein. Heute konntest du entdecken, wie vor unserer Zeit gearbeitet wurde.«
Mein Vater lacht lautstark. Ich verzichte auf weitere Diskussionen und schweige lächelnd. Den Entdeckerwahn für seine Zwecke zu verwenden ist keine neue Begebenheit. Vor einiger Zeit hat er einmal seine liebste Holzaxt Judy gesucht. Da kam es dann zur Aussage, dass ich sie doch entdecken solle. Am Ende lag sie in den Tiefen seines unordentlichen Lagers.
Nachdem wir das Holz vollständig verstaut haben, begeben wir uns endlich zum Haus. Ich rieche das Essen von Mutter. Es gibt Gemüsesuppe.
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