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 November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.

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Wir haben Istal erreicht. Mit einem befreienden Ruck lasse ich den Griff los. »Endlich sind wir da!«
»Freu dich nicht zu früh, mein Sohn!« Vater öffnet die Rückseite des Karrens. »Das Holz muss abgeladen werden und nach einer kurzen Pause geht es direkt weiter mit dem Aufladen der Materialien für das Dorffest.«
»Da wünsche ich euch viel Spaß!« Anna winkt uns zu. »Hannelore und ich sammeln jetzt für Valan ein paar Blumen vom Feld.«
Ich schaue ihr mit neidischem Blick nach und wende mich dann dem Holz zu. Vater ist schon dabei es abzuladen. Ich helfe ihm und wir stapeln es nacheinander auf dem Lieferplatz von Istal, der Sammelstelle für den Austausch von Waren zwischen den einzelnen Dörfern.
Als ich das letzte Stück vom Karren hebe, ruft uns eine Stimme: »Lars! Schön, dich zu sehen! Noel ist auch dabei! Bist du etwa schon wieder gewachsen? Du bist ja schon fast so groß wie dein alter Herr.«
Es ist Wolfgang. Der Ehemann von Wilhelmine Weizenacker. Das erinnert mich daran, dass ich ihr noch das Rezept von Mutter übergeben soll.
»Wolfgang!« Vater grüßt den blonden, bärtigen Bauern und schütteln ihm mit einem kräftigen Handschlag die Hände. »Wie verläuft die Ernte? Ist alles für das Fest vorbereitet?«
»Die Säcke mit der Ernte liegen dort vorne. Es sind auch zwei volle Säcke Bucklbrot und frisches Bucklfleisch dabei.«
Sie sind riesig und bis oben hin vollgestopft. Meine Hoffnungen auf einen angenehmeren Rückweg sind dahin. Das Bucklbrot und Bucklfleisch kommt aus Sunas, dem dritten Dorf. Die Herstellung ist sonderbar.
Buckl sind menschengroße, dicke, vierbeinige Tiere mit einem Höcker auf dem Rücken. Sie züchten sie auf der Weide. Ihr Fleisch schmeckt lecker, aber das Beste an ihnen ist der Kot. Ich weiß, das klingt ekelhaft. Wenn man einen ausgewachsenen Buckl mit Weizen füttert, kommt aber ein nährstoffreicher, duftloser Kot heraus, aus dem das Brot gebacken wird. Das Bucklbrot ist eine Delikatesse! Nach Mutters Gemüsesuppe ist es mein Lieblingsessen.
Wie das Brot genau hergestellt wird, hat mich nie interessiert. Anna wüsste sicher mehr. Das saftig schmeckende Bucklbrot ist für mich die Hauptsache!
»Noel, du hast jetzt einen Moment Pause. Ich werde mit Wolfgang das Werkzeug in die Werkstatt bringen.«
»Ich bringe in der Zeit das Rezept zu Frau Weizenacker. Mutter hat es mir mitgegeben.«
»Oh, du hast recht, mein Sohn! Das hätte ich fast vergessen. Weißt du, wo sie gerade ist, Wolfgang?«
»Wilhelmine ist mit Willy und Winfried auf den Feldern. Auf das Rezept wartet sie schon eine Weile. Da freut sie sich sicher.«
Willy und Winfried sind die Kinder der Familie Weizenacker – zwei sehr anstrengende Banausen. Sie sind sieben und neun Jahre alt und immer am Streiten und Raufen.
Ich bedanke mich für den Hinweis und eile zu meinem Ziel. Die Felder erstrecken sich im Westen über eine Fläche, die so groß ist wie das Dorf selbst. Hinter ihnen ist ein steiler Abgrund zum Meer. Ich atme tief ein. Der Wind trägt die frische Luft bis zum Dorf und sorgt dafür, dass die Wellen lautstark an den Klippen zerschellen. Nördlich der Felder gibt es sogar eine kleine Küste, die einen so nah an das Wasser bringt wie sonst kein anderer Ort im Westwald. Die Bewohner von Istal nutzen den Platz, um Fische zu fangen. Angeln ist ein langweiliger Zeitvertreib. Die ganze Zeit steht man nur auf der Stelle und wartet, dass irgendwann mit etwas Glück und Beistand der Göttin Laquine ein Fisch anbeißt.
In der Ferne sehe ich Frau Weizenacker auf einem der Felder. Auch Anna ist hier. Sie sucht auf der Wiese nach Blumen für die Gräber der Verstorbenen. Doch zuerst muss ich zu Wilhelmine.
Aus der Entfernung höre ich sie schon fluchen: »Willy! Winfried! Hört gefälligst auf, euch mit der Zucchini zu bekämpfen! Die wollen wir noch essen!«
Mit lautem Kampfgebrüll rennen die beiden Bengel durch das Beet, als hätten sie frisch geschmiedete Schwerter von Norbert in der Hand.
»Hallo, Frau Weizenacker! Wie geht es ihnen?«, frage ich sie höflich.
»Oh, Noel!« Sie dreht sich überrascht zu mir. »Du bist also auch hier. Anna habe ich gerade schon getroffen.«
»Ein Räuber! Ein Räuber!« Willy und Winfried stürmen mit ihren Zucchini bewaffnet auf mich zu.
Während ich mit der rechten Hand die nicht sonderlich schmerzhaften Angriffe blocke, führe ich das Gespräch mit Frau Weizenacker fort. »Ich bringe Ihnen das Rezept für die Gemüsesuppe von meiner Mutter. Hier! Bitte sehr!« Ich reiche ihr das gefaltete Papier und sie nimmt es freudig entgegen.
»Das ist wunderbar! Ich danke dir, Noel!« Sie hebt das Schriftstück hoch und wedelt damit durch die Luft. »Schaut mal Kinder, jetzt können wir noch schönere Dinge aus den Zucchini machen! Also legt sie, verdammt noch mal, endlich in den Korb!«
Ihre Laune ändert sich schlagartig. Ohne Widerworte folgen Willy und Winfried der Aufforderung ihrer Mutter. Sie hat sie im Griff.
»Entschuldige das Verhalten meiner Kinder. Sie wissen sich nicht zu benehmen. Anna ist auf der Blumenwiese, wenn du zu ihr möchtest. Sie wirkte etwas bedrückt und in Gedanken versunken, als ich gerade mit ihr gesprochen habe. Vielleicht kannst du sie ein wenig aufheitern?«
Sie wirkte bedrückt? Ich blicke auf das Blumenfeld. Anna kniet zusammen mit Hannelore vor einigen lila Blumen und ... weint sie?
»Ich werde zu ihr gehen und nachsehen.«
Was ist passiert? Ich habe Anna lange Zeit nicht mehr in Tränen gesehen. Woher kommt die plötzliche Traurigkeit? Sie war doch eben noch gut gelaunt? Vielleicht irre ich mich auch. Aus der Entfernung ist es schließlich schwer zu erkennen.
Aber wenn es doch so ist? Wie verhalte ich mich am besten? Früher, als wir jünger waren, haben wir uns in solchen Momenten umarmt. Jedoch ist sie seit kurzem bei Berührungen abweisender. Ich rufe sie besser vorher aus der Entfernung, sodass sie sich nicht überrascht und ertappt fühlt. »Anna! Hast du schon die richtigen Blumen gefunden?«
Sie zuckt zusammen, wischt hastig mit der Hand durch ihr Gesicht und dreht sich zu mir. »Was machst du denn hier? Hast wohl Angst, dass dein Vater dir mehr Arbeit aufhalst?« Sie lächelt.
»Ich musste noch ein Rezept von Mutter zu Frau Weizenacker bringen.« Wir schauen uns in die Augen. Ihre sind glasig und gerötet. »Ist alles in Ordnung bei dir?«
Erstaunt hält sie kurz inne und schmunzelt. Dann richtet sie ihren Blick auf das Blumenmeer direkt neben uns. »Du siehst auch alles, oder? Ein wahrer Entdecker.« Sie kniet sich auf den Boden und pflückt einige der Blumen. »Ich war kurz traurig. Früher hat mich Mutter immer zu dieser Wiese mitgenommen. Sie hat mir all die unterschiedlichen Blumen gezeigt und erklärt. Nur diese hier konnte sie mir nicht erklären. Sie wusste selbst nicht, wie sie heißen.« Anna hält die lila Blumen hoch, sodass ich sie in voller Pracht sehe. Das gelbe Blüteninnere reflektiert die Sonnenstrahlen und wird von einer Vielzahl langer, kleiner Blätter umringt. »Es gibt keine Schriften zu ihnen in unseren Büchern. Mutter hatte diese Blumensamen von einem Freund. Sie verstreute sie hier auf dieser Wiese. Sie meinte, es seien die Schönsten, die sie je auf der Welt gesehen habe. Einmal steckte sie mir eine der Blumen ins Haar und sagte: »Eines Tages, wenn du ausgewachsen bist, wirst auch du so wunderschön wie diese Blume sein.« Immer, wenn ich hier bin, vermisse ich sie sehr. Es ist, als sei sie wieder bei mir, weißt du? Was würde ich dafür geben, dass sie mir noch mal eine dieser Blumen ins Haar steckt.«
Einige Tränen schleichen sich über ihre Wange. Sie kullern langsam an ihr herunter, bis sie auf die Blütenblätter fallen. »Ich vermisse sie.« Anna lässt ihrer Trauer freien Lauf und schluchzt. Auch meine Augen werden von Kummer geflutet. Ich schlucke schwer. Ihren Schmerz kann ich nur erahnen. Oh Stellux, wie gerne würde ich ihr davon erzählen, dass ihre Mutter jetzt in deinem oder einem der andere Götterreiche verweilt. Das es ihr dort gut geht. Doch es würde nichts nützen. Sie glaubt nicht daran. Für sie ist der Tod nur eines. Das Ende.
Hannelore setzt sich eng an ihre trauernde Beschützerin. Ihre Wärme schenkt ihr Trost, doch der Klang des Schluchzens endet nicht. Er ist wie ein Dolchstich, der tief in mein Herz eindringt. Ich ertrage es nicht. Was kann ich bloß tun? Soll ich sie doch in den Arm nehmen? Nein. Ich traue mich nicht. Verdammt! Warum bist du so feige, Noel? Aber dann kommt mir eine Idee. Ich pflücke eine der lila Blumen von Beet.
»Was hast du vor?« Anna dreht sich zu mir. Während sie mich mit ihren verweinten Wangen ansieht, stecke ich die Blume in ihr glänzend rotes Haar.
»Ich bin zwar nicht deine Mutter – aber sie hat Recht. Du hast die Blume mehr als verdient.« Ich lächele sie an. Mein Herz schlägt unglaublich schnell. Für einen Moment herrscht vollkommene Stille und wir schauen uns nur an. Es ist, als stehe die Zeit. Bei Stellux, bitte sag doch etwas.
»Ich ...« Sie lächelt mit geröteten Backen und schaut zur Seite auf die Wiese. »Danke.« Dann legt sie die Blumen in ihrer Hand zum gesammelten Strauß und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich werde sie Luisinen nennen! Was hälst du davon?« Ihre Stimme ist fröhlich. Sie strahlt. Wenn auch mit einem zwanghaften Beigeschmack.
»Ich denke, das ist eine wunderbare Idee. Ich bin mir sicher deine Mutter freut sich gerade sehr darüber.« Ich starre in den wolkenklaren Himmel.
»Schön wärs.« Anna lächelt und schaut ebenfalls hinauf.
Wieder diese Stille. Ich würde gerne ihre Hand greifen. Sie hat das Kompliment besser angenommen als erwartet. Aber es ist unsere Freundschaft, die wie eine Mauer vor meinen Gefühlen steht. Die Angst davor, alles deswegen zu riskieren – es zu verlieren. Für immer!
»Oh nein!« Anna schreckt auf und zeigt aufgeregt auf eine der Luisinen vor uns. »Da ist ein kleiner schleimiger Venuxir im Beet. Er wird die Blumen zerstören. Wir müssen ihn schnell einfangen.« Anna eilt auf das wurmartige Tierchen zu. Es sitzt auf einer der Blüten.
»Ein Venuxir? Was ist das? Warum sollte er die Blumen zerstören? Frisst er sie etwa?«
Anna seufzt lautstark vor sich hin. »Noel du musst unbedingt mehr lesen. Waldinstekten Band 1, Seite 43: Der zweischneidige Wurm Venuxir. Kein Wurm ist so gefährlich und zugleich nützlich für das Pflanzenreich wie er. Während er sich mit wurmtypischen Ring- und Längsmuskel fortbewegt, scheidet er eine warme, gasförmige Substanz aus, um seinen Körper vor der Überhitzung zu schützen. Die Substanz geht anschließend aufgrund der geringeren Außentemperatur, in einen festeren, sekretartigen Zustand über. Dieses sogenannte Venuxsekret ist hochgiftig für die Pflanzenwelt und kann sehr wahrscheinlich zum Tod der Pflanze führen. Verstehst du es jetzt?«
»Bei Stellux, wie grauenvoll. Aber warum soll der Wurm dann nützlich für die Pflanzen sein?«
»Denk doch mal nach, Noel. Wenn man das Venuxsekret einsammelt und richtig einsetzt, kann man damit gezielt Unkraut bekämpfen. Die Pflanzen, die man züchtet, haben dann mehr Möglichkeiten, dass sie sich frei entfalten.« Anna holt eine kleine Phiole aus ihrem Beutel hervor. »Lass uns den Venuxir einfangen! Wir benutzen ihn, um das Unkraut von den Gräbern im Dorf zu entfernen. Bis wir zuhause sind, hat er bestimmt schon eine Menge Sekret erzeugt.«
Sie greift nach dem Wurm, der bereits eine Schleimspur hinter sich herzieht und packt ihn in den Behälter. Es dauert nicht lang, bis die Luisine in sich zusammenfällt. Sie ist pechschwarz und zerbröselt im Wind.
»Faszinierend! Das ging wirklich schnell.« Ich hole mein Tagebuch hervor. »Das muss ich mir notieren.«
Anna greift sich derweil den gesammelten Blumenstrauß. Sie sieht schon wieder besser aus. Für einen Moment kreuzen sich erneut unsere Blicke. Die Blume in ihrem Haar ist wunderschön. Genauso wie sie.
»Anna! Noel!« Eine Stimme schallt aus dem Dorf. Es ist Vater. Er steht am Rand des Feldes und winkt uns zu. »Seid ihr fertig? Wir wollen weiter! Es gibt noch viel zu tun!«
»Wir kommen, Herr Forstschlag! Wir kommen! Keine Panik!« Anna grüßt zurück und reicht mir Hand, um mir aufzuhelfen. »Los gehts! Der Karren zieht sich nicht von allein.« Sie zwinkert mir zu.
»Ha. Ha.« Sie ist wieder ganz die Alte. Ein letztes Mal schaue ich auf den Horizont hinaus und genieße den Ausblick auf das Meer. Die Welt – ich will sie endlich sehen. »Kümmern wir uns um Torwald, wenn wir zurück sind?«
»Sicher!« Anna lächelt. »Er hat uns schließlich etwas versprochen.«
»Aber ich befürchte mein Vater wird mich nicht so einfach gehen lassen. Er wird wollen, dass ich mit ihm das Dorffest vorbereite.«
»Und genau das ist unsere Chance! Alle werden abgelenkt sein. Ich habe schon eine Idee, wie ich deinen Vater überzeugen kann. Lass das mal meine Sorge sein. Jetzt geht es erst mal wieder zurück.«

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