November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.
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Anna und ich bewegen uns geduckt und mit ausreichendem Abstand in den Büschen am Wegesrand. Zu unserem Glück hat der Jäger sich bisher kein einziges Mal umgedreht.
Doch es wird bald dunkel. Sich in der Nacht im Wald zu orientieren, ist ohne Hilfsmittel unmöglich. Ich hoffe, wir erreichen in absehbarer Zeit unser Ziel.
»Meinst du, er geht aus dem Wald heraus?«, frage ich Anna leise.
»Ich denke, er geht zu den Wölfen. Schließlich ist es Torwald. Wenn du genau hinschaust, siehst du, dass er neben seinem Bogen etwas auf dem Rücken trägt. Das sind vermutlich wieder Nahrungsreste aus dem Dorf.«
»Wenn er zu den Wölfen geht, sollten wir noch mehr Abstand halten! Die riechen uns doch aus mehreren hundert Metern.«
»Uuungefähr zwei Kilometer. Die müssten uns also jetzt schon riechen. Aber wenn das wirklich Fleisch in Torwalds Rucksack ist, brauchen wir uns keine Sorgen machen. Ich drehe jetzt ohnehin nicht mehr um!«
Das stimmt, wenn Anna sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht mehr davon abzubringen. Ich hoffe, dass die Wölfe ein höheres Interesse an dem Rucksack haben, als an uns.
Ich schlucke schwer und merke, wie der Schweiß sich mehr und mehr unter meiner Kleidung verteilt. So weit waren wir bisher noch nie vom Dorf entfernt. Oh Stellux, bitte sorge dafür, dass alles ein gutes Ende nimmt. Meine Entdeckerreise fängt doch erst an.
»Noel, schau! Da ist eine Höhle! Torwald will bestimmt in die Höhle! Ob dort die Wölfe ihr Zuhause haben?«
»Bitte etwas leiser Anna! Oder willst du, dass Torwald uns doch noch entdeckt!«, flüstere ich ihr zu. »Aber du hast Recht - das ist bestimmt das Zuhause der Wölfe.«
»Hannelore! Geh in Deckung!« Anna stellt sich schützend vor das Azurosa-Weibchen, das nervös über den Waldboden tapst.
Gemeinsam bewegen wir uns noch ein Stück näher an das Geschehen heran. Torwald steht jetzt vor der Höhle und ruft hinein. Leider verstehen wir keine genauen Worte.
»Wie viele Wölfe sind es wohl?«, fragt Anna.
»Ich glaube Torwald hat gesagt, dass es ein sehr großes Rudel ist.«
»Sehr groß? Dann sind es bestimmt über zehn! Ich bin so aufgeregt!«
Ich teile ihre Anspannung. Das ist mit das Verrückteste, was wir bisher erlebt haben. Einmal haben wir versucht, uns in das Wirtshaus zu schleichen. Leider erwischten uns die Erwachsenen im letzten Moment. Dadurch haben wir die Möglichkeit verpasst, die Ratssitzung zu belauschen.
»Sie kommen raus!«, sagt Anna. Ein Wolf nach dem anderen läuft aus der Höhle und springt Torwald an, sodass dieser vollständig zu Boden sinkt.
»Man könnte meinen, sie wollen ihn fressen, so wie sie ihn anspringen!«, erwidere ich. »Er ist fast nicht mehr zu erkennen.«
»Ich glaube, die begrüßen ihn nur. Sieh nur! Er steht schon wieder auf.«
Der Jäger erhebt sich und streichelt einige der Tiere. Immer mehr Wölfe eilen aus der Höhle und versammeln sich um ihn herum.
»Das sind schon mehr als zehn Wölfe«, sage ich.
»Das kann nicht sein!« Anna zeigt nach und nach mit ihrem Finger auf die Tiere und murmelt ein paar Zahlen. »Ich sehe über dreißig! Ein normales Wolfsrudel sollte laut unserer Schulbücher nicht mehr als zwölf Tiere beinhalten.«
Doch bevor wir diese Ungereimtheit genauer diskutieren, kommt eine Gestalt aus der Höhle! Sie trägt eine dunkle Kutte mit einer Kapuze und ist kaum zu erkennen.
»Ich fasse es nicht! Wer ist das?«, frage ich. »Es gibt also doch mehr Menschen außerhalb der Dörfer?«
Torwald kippt seinen Rucksack aus und es fallen einige Essensreste heraus. Im nächsten Augenblick stürzt sich das ganze Rudel auf die Nahrung. Sie knurren sich dabei gegenseitig an und es entsteht eine Rauferei.
Auf einmal ertönt ein Geheul und ein weiterer Wolf erscheint. Er hat eine Narbe, die sich über seine gesamte rechte Kopfhälfte zieht.
»Ist das nicht der Wolf, der in unserem Dorf war?«, fragt Anna.
»Du hast Recht!«
Manchmal frage ich mich, wie sie sich das alles merkt. Es ist ein Wunder, dass ich Torwald vor ihr erkannt habe, als er uns im Wald erschienen ist.
»Wie hieß er noch mal? Warte. Ich habe es gleich. Lucky! Er heißt Lucky! Ich habe ihn damals sogar einige Male gestreichelt!«
Der Wolf bewegt sich langsam auf den Rest des Rudels zu. Die anderen weichen ihm aus und entfernen sich von der Futterstelle, sodass er zum Fressen kommt.
»Faszinierend! Noel! Das ist bestimmt das Alphatier!«
»Alphatier?«
»Hast du überhaupt mal in Biologie aufgepasst? Das hat uns Frau Hammelblatt doch erklärt. Das Alphatier ist der Rudelführer. Er leitet das Rudel.«
»Achso! Das erklärt, warum sie ihn alle an das Futter lassen.«
Manchmal war ich im Unterricht tief in meine Gedanken versunken und habe nicht alles mitbekommen. Aber für solche Fälle ist Anna da. Ich lächle.
»Was ist so lustig?«Sie starrt mich verdutzt an.
»Ach nichts. Es ist einfach schön, dass du da bist.«
»Eeehm. Jetzt ist keine Zeit für nette Worte! Wir sind auf Entdeckermission!«
Anna mag es gar nicht, wenn ich ihr ein Kompliment mache. Da weicht sie immer gleich aus. Bisher habe ich mich noch nicht getraut, ihr zu sagen, dass in mir mehr als nur freundschaftliche Gefühle für sie schlummern. Allein der Gedanke daran schlägt mir auf den Magen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie mein Empfinden nicht teilt.
»Unglaublich! Noel schau hin und träum nicht! Die unbekannte Gestalt ist eine Frau! Sie und Torwald – sie küssen sich!«
»Ob sie ein Paar sind? Torwald lebt allein im Dorf. Vielleicht versteckt er seine Frau schon die ganze Zeit bei den Wölfen?«
»Warum sollte er das tun? Wurde sie verstoßen? Die Geschichte wird immer interessanter!«
Torwald greift in seine Tasche und holt eine Wasserflasche hervor. Die Frau freut sich und umarmt ihn. Es fällt mir durch die Kutte schwer, sie genauer zu erkennen. Der Jäger schraubt die Flasche auf und die Unbekannte befreit ihre Füße von dem Stoff.
»Was wird das denn jetzt? Siehst du, was ich sehe, Noel? Ihre Beine sind grün und ihre Füße sehen so ungewöhnlich aus!«
Ich nicke mit dem Kopf. Mir fehlen die Worte. Was hat das bloß zu bedeuten? Ist die Frau etwa kein – Mensch?
»Ich muss da näher ran! Von hier sieht man einfach nichts.« Anna pirscht sich weiter vor, bevor ich überhaupt Einspruch erhebe. Vorsichtig schleiche ich hinter ihr her. Wir sind jetzt deutlich näher am Geschehen, als es mir lieb ist.
»Kannst du mehr erkennen?«, frage ich. Zusammen mit Hannelore hocke ich tief im Gebüsch, während Anna Ausschau hält. Oh Stellux! Lass unsere Neugierde ein gutes Ende nehmen.
»Ich fasse es nicht. Das kann nicht sein!«
»Was denn?«
»Ihre Beine, ihre Füße.« Anna und holt tief Luft. »Sie sehen aus wie eine Pflanze. Das sind gar keine Füße. Das sind Wurzeln!«
»Wie bitte?« Ich drücke das Gestrüpp beiseite, um eine Sicht auf das Geschehen zu bekommen.
Jetzt sehe ich es auch. Ihre Beine haben zwar die Form von menschlichen, aber ihre grüne Haut ist rau. Sie sieht fast aus wie Rinde. Von den Füßen spreche ich erst gar nicht. Wie Wurzelstränge dringen sie in den Boden ein.
Wir starren weiter wie gebannt. Dann kippt Torwald das Wasser auf ihre Beine.
»Ähm.« Anna neigt ihren Kopf zur Seite. »Gießt er sie jetzt?«
»Ich glaube, ja.«
Ich bin genauso durcheinander wie Anna. So viele Fragen schwirren in meinem Kopf umher. Was ist mit dieser Frau passiert? Ist sie wirklich kein Mensch? Wenn sie es nicht ist, was ist sie dann? In welcher Beziehung steht sie zu Torwald?
»Knack!« Mit einem lauten Geräusch gibt einer der Äste nach, an dem sich Anna festgehalten hat. Sie verliert das Gewicht und knallt auf den harten Waldboden.
»Oh, verdammt.« Anna rafft sich langsam wieder auf. Ihr linker Arm blutet. Der Alphawolf hat Blickkontakt mit ihr aufgenommen und schaut ihr knurrend in die Augen. Sie wirkt durch den Blick wie gelähmt.
So schnell wie nur möglich schnappe ich mir Hannelore und rufe ihr zu: »Anna! Wir müssen hier weg! Kannst du noch laufen?«
Sie schaut zu mir rüber und nickt. Mit einem Satz rennen wir durch das Gebüsch zurück. Keiner von uns wagt es, sich umzudrehen. Ich weiche den Sträuchern und Ästen so gut es geht aus. Das Azurosa-Weibchen bekommt dabei einige Hiebe ab und gackert lautstark. Doch für Rücksicht bleibt keine Zeit. Ich renne immer tiefer in den Wald.
»So ein Mist!«, ruft Anna. »Warum lehne ich mich auch an diesen blöden Ast.« Sie ist direkt hinter mir.
Im nächsten Augenblick entdecke ich etwas vor uns, dass mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ich halte sofort an. Noch bevor es mir möglich ist, Anna zu warnen, prallt sie von hinten gegen mich und wir fallen auf den Waldboden.
»Aua! Noel! Warum hast du angehalten? Willst du, dass sie uns einholen?«
»Zu spät. Das haben sie bereits.«
Vor uns steht der Alphawolf. Er schaut mit leicht geducktem Kopf tief in meine Augen. Zwei seiner Kameraden stehen direkt neben ihm.
»Wölfe schaffen also wirklich bis zu 60 Kilometer die Stunde«, sagt Anna mit zittriger Stimme.
Immer mehr Wölfe sammeln sich um uns. Eine Flucht ist aussichtslos. Für einen Moment ärgere ich mich über mich selbst. Wären wir Torwald bloß nicht gefolgt. Vater hat vielleicht doch Recht. Die Welt hier draußen ist für uns zu gefährlich.
Halt! Nein! Das ist nicht die Einstellung, die Stellux gutheißt. Es gibt immer Hoffnung, ich muss nur daran glauben.
»Was haben wir denn hier?«, fragt eine raue Stimme. Sie ist weiblich.
Wir drehen uns sofort um. Es ist die unbekannte Frau. Ich erkenne jetzt ihr Gesicht. Sie hat viele Falten und sieht alt aus. Ihr gesamter Körper ist, soweit ich ihn durch die Kutte sehe, mit einer Vielzahl von Blättern und Blüten bedeckt. Sie sind bräunlich und schon fast verwelkt. Was hat sie mit uns vor?
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