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Westwald

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

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C November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.

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Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

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Westwald Story 2021 (Deutsch): HTML-Einbettung

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Westwald Story 2021 (Deutsch): HTML-Einbettung

Heimweg

Langsam stapfe ich mit meinen Stiefeln über den Boden. Er ist vom Regen aufgeweicht und ich bin mit Vater unterwegs, um Holz in unser Lager im Dorf zu bringen. Wir brauchen es für das alljährliche Dorffest. 
Mein Vater ist Holzfäller und für die Holzversorgung bei uns zuständig. Sein Name ist Lars Forstschlag und ich heiße Noel Forstschlag. Seit einigen Tagen bin ich endlich sechszehn. Lange Zeit dachte ich, dass dies etwas Schönes sei, bis mein Vater mich darauf hinwies, welche Pflichten ich habe.
Mit sechzehn Jahren erreichen wir die Volljährigkeit und sind eine neue Arbeitskraft für die Gemeinschaft. Ab sofort unterstütze ich meinen Vater täglich bei der Arbeit. Überzeugt bin ich davon aber nicht und habe andere Ziele.
Eines Tages werde ich ein Entdecker sein und jeden Ort bereisen. Leider weiß ich nicht, wie viele Orte es gibt und wie groß die Welt ist. Mein ganzes Leben verbrachte ich bisher in diesem Dorf und dem Wald, der uns fast vollständig umringt. 
»Noel! Etwas schneller bitte! Du träumst doch schon wieder. Wir sind bereits zu spät und du weißt, wie deine Mutter reagiert, wenn das sorgfältig vorbereitete Essen kalt wird. Es ist schließlich schon Mittag«, ruft mir mein Vater zu. Er ist ein Stück weiter vorne.
»Ja, ich komme schon!«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Der Boden ist zu weich. Ich habe das Gefühl, zu versinken, mit dem ganzen Holz auf meinem Rücken.« 
Vater stört das Gewicht des Holzes nicht. Durch seine tägliche Arbeit im Wald hat er im Gegensatz zu mir eine kräftige Statur. Wie üblich, trägt er eine dunkelgrüne Hose und ein rot-schwarz kariertes Hemd.
Er schaut durch die Baumkronen in den Himmel und antwortet: »So einen starken Regen haben wir schon lange nicht mehr gehabt. Der Boden mag matschig und schwer begehbar sein, aber die Wasserspeicher im Dorf sind jetzt wieder gefüllt. Die Medaille hat immer zwei Seiten, mein Sohn.«
Er lächelt mich an. Belehrenden Sprüche sind seine Spezialität. Es scheint, als würde er nur darauf warten, mir die nächste Lebensweisheit beizubringen. Wichtig dabei: sie wird mit ›mein Sohn‹ beendet. 
Ich schließe zu ihm auf, gebe eine nickende Geste von mir und wir stapfen den Weg im Duett weiter. So gern mir mein Vater Ratschläge gibt, wenn ich ihm eine Frage stelle, blockt er ab. Es folgt die Aussage: »Da bist du noch zu jung für, mein Sohn!«. Ich kann diesen Spruch nicht mehr hören.
Ein Beispiel ist die Geschichte um die Gemeinschaft im Wald. Er umringt uns und ich habe ihn nie verlassen. Mein Dorf heißt Valan und ist nach dem Ratsoberhaupt benannt: Valan Brenshar. Neben unserem Dorf gibt es im Wald zwei weitere Dörfer. Sie heißen Sunas und Istal und haben ihre Namen von den anderen Ratsoberhäuptern: Istal Brenshar und Sunas Brenshar. Sie sind alle drei Brüder – Drillinge, um genau zu sein. 
Wir nennen den Wald den Westwald, wobei ich mich dabei frage: »Wenn dies der Westwald ist, was befindet sich dann östlich von ihm? Der Ostwald? Oder doch etwas ganz anderes?« 
Das Einzige, was ich außer dem Wald erblicke, sind die Berge, welche sich von unserem Dorf aus über die Baumkronen erstrecken, und das Meer im Westen. Ich stelle mir oft die Frage, ob es andere Menschen außerhalb des Waldes gibt. Dies erzählt mir Vater aber erst an meinem achtzehnten Geburtstag – vorher bin ich zu jung. Ich halte diese zwei Jahre nicht mehr aus.
Wir haben häufiger versucht, uns aus dem Wald zu schleichen. Ein Ende war bisher nicht in Sicht. Aus dem Dorf führen viele Wege und Pfade. Auf dem Holzpfad transportieren wir das Holz. Da der Holzplatz abseits des Dorfes südlich liegt, ist das unsere Transportroute und der tägliche Arbeitsweg meines Vaters. Hier sind wir in diesem Moment.
Die Erkundungsversuche der Jugendlichen finden auf dem Valan-Pfad statt. Er ist im Nordosten des Dorfes. Die Erwachsenen benutzen diesen Weg und kehren mit Nahrungsmitteln und Gegenständen wieder. Es ist für uns eine Mutprobe, den Pfad zu erkunden. Wenn sich jemand nicht mehr weiter wagt, legt er eine persönliche Markierung aus Steinen abseits des Pfades ab. Meine ist eine Sonne. 
Aktuell führe ich und habe es bis zu dem Punkt geschafft, an dem sich der Valan-Pfad mit einem anderen Weg schneidet. Da ich damals schon eine Weile unterwegs war und es dämmerte, habe ich mich entschlossen, umzukehren. Beim nächsten Mal werde ich es weiter schaffen. Ich muss nur etwas früher losgehen.
Der komplizierteste Teil ist dabei leider, dass die Erwachsenen davon nichts mitbekommen. Meine Eltern geben mir Hausarrest, wenn sie von der Mutprobe hören. Vater ist bei dieser Sache streng. Ich habe das Gefühl, dass er mein unaufhaltsames Interesse an der Welt da draußen bemerkt hat. Ich frage ihn dazu häufig. Eine zufriedenstellende Antwort erhalte ich leider nie. Das erinnert mich daran, dass ich ihn länger nicht darauf angesprochen habe. 
Ich richte den Blick in seine Richtung und frage: »Sag mal, Vater, woher kommt die Kohle und das Eisen, das der Vater von Anna immer in seiner Schmiede verwendet?«
»Nicht schon wieder Noel!«, stöhnt er. »Ich habe dir doch schon oft genug gesagt, dass du dich noch gedulden musst. Erstmal lernst du die Grundlagen für die Mitarbeit im Dorf.«
Genau wie erwartet. Ich hoffe, die Götter verzeihen mir die folgende kleine Lüge: »Der Vater von Anna meint, es kommt von den Menschen hinter dem Wald. Sie leben in den Bergen, die man vom Dorf aus erkennen kann.«
Vater bleibt sofort stehen, starrt mich entsetzt an und sagt: »Er hat WAS gesagt? Hör nicht auf so ein Gerede! Sei einfach geduldig, dann erzähle ich dir bald alles. Glaube mir, das ist nur zu deinem Besten! Wir gehen nach dem Essen noch zu Anna. Ihr habt euch doch verabredet, oder? Da werde ich mal mit ihrem Vater über dieses Thema sprechen. Dir einen solchen Unsinn zu erzählen ist nicht in Ordnung.« 
Vater schüttelt den Kopf und stapft weiter durch den matschigen Boden. Das Treffen mit Anna habe ich fast vergessen. Der Abschied von Hannelore steht bevor. Sie ist eine Azurosa und wird morgen auf dem Dorffest zubereitet. Das sind kleine, bunte Vögel, die wir bei uns im Dorf züchten. Wir haben Hannelore seit ihrer Geburt gepflegt und unsere Eltern angefleht, dass sie nicht geschlachtet wird. Aber Wölfe haben vor kurzer Zeit viele Vorräte geplündert und dabei Tiere getötet.
Torwald, unser Jäger, nimmt sich heute des Problems an. Wir nennen ihn den "Wolfsflüsterer". Er kennt als Einziger ihren Bau und bringt dem Rudel Nahrung, damit sie uns meistens in Ruhe lassen. Erstaunlich, wie er diese Tiere im Griff hat. Einen hat er schonmal mit in das Dorf gebracht. Ratsoberhaupt Valan war nicht erfreut und hat es ihm direkt verboten. Dabei war der Wolf extra mit einem ledernen Maulkorb ausgerüstet. Anna hat ihm sogar über sein Fell gestreichelt. 
Sie und ihr Vater sind unsere Nachbarn. Ihre Mutter ist vor vier Jahren gestorben. Es war eine schwere Zeit für sie, aber ich habe immer versucht, sie aufzuheitern. Heutzutage lacht sie wieder gern und ist eine freche Persönlichkeit. Sie ist ebenfalls sechzehn Jahre alt und sogar zwei Monate früher geboren. Ihr Durst nach Wissen kennt keine Grenzen. Während ich die Welt da draußen entdecken will, ist sie eher darauf fokussiert, sie bis in das kleinste Detail zu verstehen. Gemeinsam haben wir das Ziel, aus dem Wald zu entfliehen und mehr von der Welt zu sehen.
»Und da sind wir schon«, sagt mein Vater und streckt sich kurz. »Ich hoffe wir kommen noch rechtzeitig.«
Wir haben die Dorflichtung fast erreicht. Der Dorfplatz in der Mitte ist mittlerweile erkennbar. Daneben steht das Wirtshaus. Dort treffen sich die Erwachsenen häufig am Abend und erholen sich von dem langen Arbeitstag. Es ist der Treffpunkt für die Ratssitzungen. Dabei treffen sie Entscheidungen für die Zukunft des Dorfes. Den Kindern ist die Teilnahme nicht gestattet. Die Erwachsenen stellen Wachen auf, damit wir nicht lauschen.
Neben dem Wirtshaus ist die Kirche. Der Glaube und die Religion ist ein weiterer, wichtiger Aspekt im Dorf. Meine Mutter lehrt mich täglich die Lehre der Götter. Sie wachen über uns und schenken Kraft in der Not. Anna und mein Vater sind davon nicht überzeugt. Ich glaube dafür fest an sie. Meine Überzeugungsarbeit hat bei beiden bisher leider keine Früchte getragen. Es ist so schwer, ihnen das zu erklären, da sie für alles einen Beweis benötigen. Aber wie schaffe ich das? Wie belege ich, dass ich die Götter fühle oder von ihnen träume?
Im Dorf angekommen, biegen wir direkt auf den Rundpfad ab. Er umkreist es und die meisten Wohnhäuser sind an ihm platziert. Am Rand gibt es eine Vielzahl von Dorffallen. Sie dienen zum Schutz vor gefährlichen Tieren. Es sind Stolperfallen, die bei Berührung Geräusche erzeugen, und Fallgruben, welche nicht immer funktionieren, wie der Vorfall mit den Wölfen im Stall gezeigt hat. Manche sind mit Holzpfählen ausgestattet und nicht ungefährlich. Bisher ist aber niemandem etwas passiert. Die Erwachsenen sind, wie sonst, wachsam und vorsichtig. 
Ich sehe das Lager vor uns. Wir haben es, zur Freude meines gesamten Körpers, geschafft. Es ist ein Gebäude direkt neben unserem Haus. Davor ist eine Vielzahl an Holz und Werkzeugen. Es liegt verstreut auf dem Boden und Tischen. Mein Vater hat seit einigen Jahren die komplette Ordnung in seinem Lager verloren. Das plant er in den nächsten Wochen zu beheben. Ich soll ihn dabei, wie immer, unterstützen. So gerne ich meinem Vater helfe, wäre ich lieber auf Entdeckerkurs. Bei der Arbeit eines Holzfällers gibt es nach kurzer Zeit leider nichts Spannendes zu sehen. 
Das Schönste sind die Herzblattbäume in unserem Wald. Ihre Krone ist wie ein Herz geformt. Sie wird von einem eingedrehten, braunen Stamm getragen. Mein Vater flucht gerne über sie, weil sie schwer zu fällen sind. Dafür ist das dazugehörige Herzblattholz stabil und perfekt für den Bau geeignet. Es bleibt selbst bei Regen trocken und weicht nicht auf. Die Blätter des Herzblattbaumes sind ebenfalls in einer grünen Herzform. Zu allem Überfluss ist die schwarze Pikfrucht wie ein umgekehrtes Herz geformt. Sie hat eine desinfizierende Wirkung bei Wunden und beschleunigt den Heilungsprozess.
Der Baum ist aufregend für einen Entdecker und Anna gefällt er ebenso. Es gibt in der Welt dort draußen aber Weiteres zu erkunden, das uns die Erwachsenen verbieten. Ich halte diese Verbote nicht mehr aus.
»Wir haben es geschafft Noel. Ich bin stolz, dass du so gut durchgehalten hast«, unterbricht mein Vater abermals die Gedankengänge. »Ich nehme dir das Holz gleich ab. Beim nächsten Mal nehmen wir den Karren, dann ist der Transport einfacher.« 
Ein breites Grinsen entsteht auf dem Gesicht meines Vaters. 
»Warum haben wir dann den Karren heute noch nicht benutzt?«, erwidere ich leicht empört und nach Luft schnappend. 
»Das wäre doch langweilig. Beim ersten Mal wollte ich, dass du fühlst, wie unsere Vorfahren damals Holz transportiert haben. Du willst doch immer ein Entdecker sein. Heute konntest du entdecken, wie vor unserer Zeit gearbeitet wurde.« 
Mein Vater lacht lautstark. Ich verzichte auf weitere Diskussionen und schweige lächelnd. Den Entdeckerwahn für seine Zwecke zu verwenden ist keine neue Begebenheit. Vor einiger Zeit hat er einmal seine liebste Holzaxt Judy gesucht. Da kam es dann zur Aussage, dass ich sie doch entdecken solle. Am Ende lag sie in den Tiefen seines unordentlichen Lagers. 
Nachdem wir das Holz vollständig verstaut haben, begeben wir uns gemütlich zum Haus. Ich rieche das Essen von Mutter. Es gibt Gemüsesuppe.

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Gemüsesuppe

Der Regen hat mittlerweile nachgelassen. Unser Haus ist nicht wirklich ein Fund für einen Entdecker. Es besteht vollständig aus Holz und ist nahezu rechteckig geformt. Genauso, wie annähernd jedes andere Haus in unseren Dörfern. Um die Wärme im Inneren zu halten, sind die Holzwände mit einer kräftigen Schicht Stroh gedämmt. Es ist aber nie kalt im Westwald. Die Temperaturen sind angenehm.
Wir öffnen die Tür zu unserem Haus. Ein warmer Luftzug kommt uns entgegen und wir treten in den trockenen Wohnbereich ein.
»Da seid ihr ja endlich! Ich habe heute doch extra die Gemüsesuppe gemacht, die ihr so gerne mögt«, beschwert sich Mutter.
Ich lächle sie erschöpft an und freue mich über das Gericht. Ich liebe diese Suppe. Es ist angeblich ein Geheimrezept der Familie.
Mutter heißt Selena. Sie trägt ein schlankes langes Kleid. Schlaufen und Leinen halten es an ihrem Oberkörper zusammen. Ihr blondes Haar verläuft glatt, bis auf Brusthöhe, an ihren Schultern entlang.
»Wie siehst du überhaupt aus Noel?«, fragt mich Mutter und starrt entsetzt zu meinem Vater. »Lars! Ich habe dir doch gesagt, du sollst es am ersten Tag nicht übertreiben!«
»Der Junge kann das ab. Er wird jetzt zu einem richtigen Forstschlag!«, antwortet Vater prompt und wirft seine nasse Kleidung auf die Hängeleine.
Ich folge seinem Beispiel und setze mich an unseren Esstisch, an dem die warme Mahlzeit wartet.
»Vater wollte unbedingt, dass wir das Holz ohne Karren hertragen. Darum hat es so lange gedauert«, werfe ich leicht gefrustet in den Raum.
Mutter schaut erbost zu meinem Vater und sagt: »Wie bitte? Du hast den armen Jungen das Holz auf seinem Rücken tragen lassen? Du musst es auch immer übertreiben!«
»Wie gesagt, Selena, der Junge kann das ab. Er ist ein Forstschlag. Jetzt lass uns endlich etwas essen. Ich verhungere hier noch«, wimmelt Vater die aufkommende Diskussion direkt ab und macht sich eine Kelle der Suppe auf den Teller. Ein weiteres Mal folge ich seinem Beispiel.
»Mutter, soll ich dir auch eine Kelle auf den Teller machen?«, frage ich sie höflich.
»Gerne, mein Sohn!«, lächelt sie mich an und reicht mir ihren Teller.     
Nach einer längeren Schweigezeit ergreift Mutter das Wort: »Lars, ich habe den Brief gelesen. Wir müssen unbedingt noch einmal sprechen. Selbst wenn du nicht zustimmst, sollten wir wenigstens Noel endlich mehr erzählen, findest du nicht?«
Vater verschluckt sich und antwortet verwundert: »Wie bitte? Auf gar keinen Fall, Selena! Wir haben alle zusammen beschlossen, dass wir warten, bis die Kinder achtzehn Jahre alt sind.«
»Worum geht es? Was wollt ihr mir erzählen?«, werfe ich verwirrt in den Raum. »Wollt ihr mir etwa endlich erzählen, was sich außerhalb des Waldes befindet? Darf ich es endlich sehen?«
Ich spüre, wie mein Herz vor Aufregung schneller schlägt. Ist es jetzt endlich soweit? Mutter scheint besorgt nach der Reaktion von Vater. Dieser haut schlagartig auf den Tisch, wodurch seine Suppe fast vom Teller läuft.
»Selena, jetzt fängst du ebenfalls damit an. Es reicht mir schon, dass der Vater von Anna den Kindern Unfug erzählt«, nuschelt er wütend mit Gemüsesuppe im Mund.
»Was? Norbert hat etwas erzählt? Weiß es Anna etwa schon?«, fragt Mutter freudig.
»Nein! Natürlich nicht!«, nimmt Vater ihr die Hoffnung: »Davon gehe ich jedenfalls aus! Er hat erzählt, dass es Menschen außerhalb des Waldes gibt. Ich weiß nicht, wie er zu so etwas kommt. Ich werde gleich mit ihm sprechen, wenn ich Noel zu Anna bringe.«
»Wir haben so lange gewartet. Die Kinder haben es verdient, es langsam zu erfahren«, widerspricht Mutter.
»Ja! Wir haben es verdient!«, unterstütze ich sie.
»Selena! Nein! Diese zwei Jahre wird der Junge jetzt auch noch durchhalten«, versucht Vater das Gespräch zu einem Abschluss zu bringen.
Ich erhebe direkt Einspruch: »Das werde ich bestimmt nicht mehr durchhalten. Ich will endlich wissen, was es dort draußen alles gibt! Warum solltet ihr damit zwei Jahre warten? Das macht gar keinen Sinn!«
»Du willst wissen, was es da draußen alles gibt?«, reagiert mein Vater weiterhin erbost und richtet einen ernsten Blick auf mich. »Bitte! Stell dir einfach das Schlimmste vor!«
Er erhebt seine Hand und führt seine Ansprache fort: »Es ist weitaus schrecklicher. Hier im Dorf ist dein zu Hause. Hier hast du Frieden, Freunde, eine Gemeinschaft, Nahrung – alles, was ein Mensch zum Leben benötigt. Ich ertrage dieses ewige Verlangen nach der Außenwelt nicht mehr.«
Vater erhebt sich und verschwindet in einem der Hinterzimmer. Schrecklich? Was meint er damit? Verunsichert frage ich bei Mutter nach: »Stimmt das?«
Sie schaut mir tief in die Augen und lächelt: »Dein Vater übertreibt ein wenig. Schrecklich ist das falsche Wort. Sie ist definitiv anders als alles, das du dir vorstellen kannst, Noel. Aber die Götter haben dich gesegnet. Ich bin mir sicher, dass du allen Gefahren und Versuchungen standhalten wirst, die dort auf dich lauern. Du bist noch jung und wirst noch viele eigene Entscheidungen treffen – auch falsche. Das bringe ich deinem Vater auch noch bei. Für den Moment lassen wir das Thema besser ruhen.«
Ich gebe mich mit einem zustimmenden Ton zufrieden und räume das Geschirr in den Küchenbereich.
 »Ich mache heute den Abwasch. Ruh du dich aus, Mutter«, fordere ich sie auf.
Sie antwortet: »Du bist zu gut zu mir, Noel. Ich danke dir sehr.«
Während sie sich auf unsere gemütlichen Strohballen in der Wohnecke legt, begebe ich mich mit einem Eimer auf den Weg zum Wasserspeicher. Er ist direkt neben dem Haus. Ein Behälter aus Eisen und anderen Arten von Metallen, der vor jedem Haushalt im Dorf steht. Er sammelt das Regenwasser auf und filtert es zu einem trinkbaren Zustand. Anna sagt immer, dass im Regenwasser zu viele Keime und schädliche Inhaltsstoffe sind. Daher wird das Wasser vollständig davon gelöst. Wie der Wasserspeicher dies umsetzt, ist aber selbst Anna unbekannt. Er wird nicht in unserem Dorf hergestellt. Sie hat einmal geplant, den Speicher auseinanderzubauen, um ihn sich genauer anzusehen. Leider wurde sie von ihrem Vater Norbert dabei erwischt. Anna und ich müssen unbedingt herausfinden, woher der Speicher stammt.
Nachdem ich mich um den Abwasch gekümmert habe, gehe ich auf mein Zimmer.
    »Noel! Wir müssen bald los. Ruhe dich nicht zu sehr aus«, fängt mich Vater ab. Ich nicke ihm zu und lege mich im Zimmer auf mein Bett.
Hier gibt es nichts zu entdecken. Es gibt ein Bett, einen Schrank und einen kleinen Tisch mit einem Stuhl. An dem Tisch habe ich immer meine Schularbeiten erledigt. Die Zeiten sind jetzt vorbei, da wir ab dem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr zur Schule gehen.
Wie erwähnt, beginnen wir ab diesem Alter damit, unseren Eltern bei der Arbeit zu helfen. Zum einem bin ich froh, dass ich Frau Hammelblatt nicht mehr nahezu jeden Tag erlebe. Zum anderem bin ich aber traurig, da das Gefühl entsteht, dass ich nicht täglich etwas Neues lerne.
Im Vergleich zu Anna, fühle ich mich aber gut. Sie ist schon so weit, dass sie sich selbstständig Hausaufgaben ausdenkt, um das Gefühl der Schule aufrecht zu erhalten. Speziell im Rechnen ist sie unschlagbar.
»Noel, bist du soweit? Wir müssen los, sonst kommst du zu spät«, mahnt Vater.
Langsam erhebe ich mich vom Bett und verabschiede mich von Mutter: »Bis heute Abend!«
Ich umarme sie auf dem Strohballen.
»Bis heute Abend, Noel«, antwortet sie. »Schöne Grüße an Norbert und Anna von mir.«
Mutter wirkt seit kurzem geschwächt. Ich habe sie schon häufiger nach ihrem Wohlbefinden gefragt, aber sie meint, dass sie in letzter Zeit nur etwas schlecht schläft. Das würde im Alter mal vorkommen.
Seitdem habe ich ihr versprochen, dass ich jeden Abend einmal für sie unseren Lichtgott anbete. Er ist der Gott des Friedens und der Heilung.
Sein Name ist Stellux. Ich bitte ihn seit zwei Wochen für eine Besserung ihrer Situation, aber ohne großen Erfolg.
Mutter sagt immer, dass manches unveränderbar und vorherbestimmt sei. Es diene einem größeren Zweck. Solches sei nicht durch Gebete beeinflussbar. Ob ihr Schlafproblem dazugehört? Ich frage sie am besten zu einem günstigeren Zeitpunkt nochmal näher aus. Jetzt ist Zeit für Anna. Ich freue mich auf sie.

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Anna

Der Regen hat aufgehört. Wir sind kurz vor dem Haus der Familie Funkenblitz. Das ist der Familienname von Anna, Norbert und Luise, ihrer verstorbenen Mutter. Sie verstarb, zum Unmut aller, plötzlich im Alter von achtunddreißig Jahren an einer weiteren Schwangerschaft. Im vierten Monat kam es zu dem tragischen Ereignis: eine schwere Fehlgeburt. Sie erholte sich davon nicht mehr und starb.
Ich war damals zwölf Jahre alt und setzte mich zum ersten Mal mit dem Thema Sterben auseinander. Laut den Erzählungen meiner Mutter, kommt man nach seinem Tod in eines der sechs Götterreiche. Es hängt davon ab, wie man sich zu Lebzeiten verhalten hat.
Das Leben ist für alle Lebewesen in der Welt eine Prüfung. Diejenigen, die immer aufrichtig, selbstlos und hilfsbereit sind, kommen in das Reich von Stellux, dem Lichtgott. Finstere, gewalttätige und bösartige Gestalten gehen in das Reich von Goldark, dem Todesgott. Egoistische, aufbrausende und selbstsüchtige Personen landen im Reich von Meltana, der Feuergöttin. Der Erdgott Anaragai erhält alle gelassenen und ausgeglichenen Lebewesen sowie die, die sich für die Natur einsetzen. Die Wassergöttin Laquine nimmt die Wissbegierigen, Manipulativen und jene, die ihr Leben dem Meer und der See gewidmet haben. Vales ist der Donnergott und Vis der Windgott. Zusammen regieren sie über das letzte Reich und erhalten die Zukunftsweisenden sowie die vom Himmel Begeisterten.
Die Tatsache, dass das Leben eine Prüfung ist, veränderte meine Einstellung. Ich stellte mir die Frage: »In welches Reich möchte ich nach dem Leben?« Mutter erzählte mir leider bisher nicht mehr über die einzelnen Reiche und deren Unterschiede. Sie selbst erstrebt das Reich von Stellux. Da ich das Gefühl habe, dass mir Stellux am nächsten ist und meine Einstellungen am besten zu ihm passen, entschied ich mich damals ebenfalls für diesen Pfad. Seitdem achte ich mehr darauf, aufrichtig und hilfsbereit zu allem und jedem zu sein.
»Siehst du das Noel?«, macht mich Vater aufmerksam. »Die Tür des Hauses ist bereits offen.« 
Mein Vater hat recht. Die Tür zum Haus von Anna ist nur leicht angelehnt. 
»Ob etwas passiert ist?«, frage ich Vater besorgt. 
»Ach, das glaube ich nicht. Wir gehen vorsichtig hinein«, beruhigt er mich zugleich. »Vielleicht haben sie die Tür nicht richtig geschlossen, oder sind kurz außer Haus.«
Langsam öffnet mein Vater die Tür und ruft: »Norbert? Anna? Seid ihr zu Hause? Hallo?«
Gemeinsam lauschen wir auf eine Reaktion. Nichts. Das einzige Geräusch, das man hört, ist die handgeschmiedete Wanduhr von Norbert. Klick. Klack. Klick. Klack - ein nerviger Ton. Jedes Mal, wenn ich bei Anna übernachte, ist es nachts eine Qual. Sie sagt immer, dass man sich daran gewöhnt, aber so weit ist es bei mir nicht. Da Norbert diese Uhr damals Luise zum Geburtstag geschenkt hat, wird sie leider unter keinen Umständen abgehangen. 
»Buh!«, erschrickt uns eine Stimme und lacht. »Wir sind auf dem Schmiedehof. Papa zeigt Valan gerade seine neuesten Kreationen.«
    Es ist Anna! Sie hat rotes, schulterlanges Haar und ein paar Sommersprossen im Gesicht. Ihr schlanker, blasser Körper wird ummantelt von einem bunten Sommerkleid. Das ist ihr Lieblingskleid. Luise hat es ihr damals genäht und Schmetterlinge aus Stoff in unterschiedlichen Farben auf den sonst beigen Grundton angebracht. 
»Anna!«, rufe ich erfreut. »Wir dachten schon, euch wäre etwas zugestoßen. Die Tür war noch geöffnet!«
»Ach Quatsch!«, erwidert sie lachend. »Was soll einem an diesem langweiligen Ort schon zustoßen?«
»Genauso ist es«, wirft Vater lehrend ein. »Hier im Dorf ist es sicher und im Wald lauern unzählige Gefahren, denen wir besser nicht begegnen.«
»Laaaangweilig, Herr Forstschlag«, reagiert Anna mit einer gähnenden Geste. »Ich kenne die Dörfer auswendig. Die Welt da draußen wartet darauf, von mir erforscht und verstanden zu werden.«
»Noch so jemand! Ihr zwei habt euch wirklich gefunden«, grummelt Vater. »Lasst uns zu Norbert und Valan gehen und sie begrüßen.«
Unterwegs berichte ich Anna von meinem harten Arbeitstag. Der Schmiedehof ist hinter dem Haus. Aus der Entfernung hören wir Norbert und Valan. 
»Ich kann ohne weiteres Material meiner Arbeit nicht mehr lange nachgehen, Valan!«, erwähnt Norbert leicht erzürnt. »Wir müssen hier dringend etwas unternehmen.«
»Das ist mir bewusst. Aber wir werden uns unter keinen Umständen auf den Handel einlassen«, antwortet Valan. »Das würde alles zerstören, was wir aufgebaut haben!«
Die nächsten Worte verstehe ich nicht mehr. Es scheint, als hätten sie angefangen zu flüstern. 
Mein Vater winkt ihnen zu und sagt: »Norbert! Valan! Schön euch zu sehen! Ich bringe Noel, wie besprochen, vorbei, damit er sich zusammen mit Anna von Hannelore verabschieden kann.«
»Lars! Gut, dass du da bist! Wir müssen gleich dringend etwas besprechen!«, spricht Norbert ihn bedrückt an. 
»Lasst uns dafür in mein Haus gehen«, schlägt Valan vor und richtet seinen Blick auf mich und Anna. »Die Kinder sollten nicht dabei sein.«
»Anna, Hannelore befindet sich im Stall«, spricht Norbert seine Tochter auffordernd an.
»Jaja, Papa, ich habe schon verstanden«, winkt Anna ihn genervt ab. »Wir sollen verschwinden. Komm Noel! Wir gehen Hannelore besuchen und genießen den Tag!«
Sie dreht sich um und macht mit ihrer Hand eine Geste, dass ich ihr folgen soll, und wir verlassen den Schmiedehof. Was meinte Valan damit, dass der Handel alles »zerstören« würde? Und mit wem handeln sie? Mit anderen Menschen? 
»Hast du das Gespräch von deinem Vater auch gehört?«, frage ich Anna.
»Jap!«, antwortet sie schlicht, während sie den Pfad entlang hüpft.
»Hat dich das nicht neugierig gemacht? Du bist doch sonst immer so interessiert. Worüber haben sie geredet? Kanntest du das Thema etwa schon?«, führe ich das Gespräch fort.
»Mein Vater bekommt kein neues Eisen und keine neue Kohle mehr«, sagt sie und dreht sich zu mir. »Er wirkt deswegen die ganzen letzten Tage schon leicht beunruhigt. Mehr habe ich nicht aus ihm rausbekommen. Aber sollten wir wirklich kein Material mehr bekommen, woher auch immer es kommt, dann kann mein Vater nicht mehr arbeiten.« Anna wirkt kurzzeitig bedrückt und besorgt.
»Ich verstehe einfach nicht, warum sie es uns nicht sagen. Ich habe keine Lust mehr, zwei Jahre zu warten!«, fluche ich.
»Ach Noel, lass es gut sein! Sie werden es uns von allein nie sagen! Das haben wir doch schon oft genug probiert. Wir finden es einfach selbst heraus!«, lächelt sie mich an. »Ich sehe es schon vor mir: Noel und Anna erkunden die Welt. Unser persönliches Abenteuer!«
Ich bin fasziniert, wie entspannt sie das Ganze aufnimmt. Es wirkt immer so, als würde sie negative Situationen mit einer positiven Stimmung überschreiben. Diese Eigenschaft ist seit dem Tod ihrer Mutter Luise ausgeprägter. Nicht auszumalen, was passiert, wenn sie einmal nicht da ist, um mich aufzumuntern.
»Du hast Recht!«, grinse ich sie zurück an. »Also wagen wir uns gleich nochmal auf den Valan-Pfad?«
Sie streckt ihren Finger in die Luft und antwortet: »Jawohl, Herr Entdecker, aber zuerst kümmern wir uns um unsere Hannelore. Wollen wir sie mitnehmen? Wir verhelfen ihr zur Flucht!«
»Du willst sie freilassen? Aber dann haben wir doch nicht genug zu Essen und bekommen einen großen Ärger!«, merke ich besorgt an.
»Hannelore ist so klein. Das ist kein Unterschied. Wir erzählen einfach, dass sie uns weggelaufen ist«, schlägt Anna vor.
»Anna! Unsere Eltern werden sehr sauer sein!«, versuche ich, sie zur Vernunft zu bringen. »Dazu kommt, dass sie dann wissen, dass wir im Wald waren. Ich will mir gar nicht ausmalen, welche Vorträge mir Vater dann hält.«
»Ach, komm schon!«, sagt sie. »Was sind ein paar Vorträge und streitsüchtige Väter im Vergleich zum Erhalt eines Tierlebens. Das ist bestimmt im Sinne von Stellux, oder?«
Sie nutzt gerne meinen Glauben aus, um mich zu überzeugen. Leider hat sie nahezu immer recht. Ich stimme ihr zu und wir holen Hannelore aus dem Stall.
Das kleine Azurosa-Weibchen hat ein rosa Federkleid und winzige blaue Federn am Kopf und Hinterteil. Sie ist aber nicht in der Lage zu fliegen. Dafür sind ihre Flügel zu klein und ihr gelber Schnabel zu groß. 
Nach einer kurzen Begrüßung hebt Anna Hannelore hoch. Sie trägt sie gerne in ihren Armen. Wir bewegen uns am Rand des Dorfes entlang, um nicht von den Erwachsenen gesehen zu werden. Dort sind viele Sträucher und Büsche, in denen wir uns verstecken. Ich bin zuversichtlich. Uns erwartet eine große Entdeckung.

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Valan-Pfad

Es ist Nachmittag. Anna, Hannelore und ich verstecken uns am Anfang des Valan-Pfades in einem Gebüsch. 
»Also dann, Noel«, grinst mich Anna an, »auf in das Abenteuer!«
Mit Hannelore unter dem Arm und langsamem Schritt schleichen wir uns durch die Büsche, bis wir außer Sichtweite des Dorfes sind. 
»Schau mal dort!«, Anna zeigt auf einen Steinhaufen. »Ist das nicht das Symbol des kleinen Lucas? Hat er sich noch nicht weiter getraut?« 
Anna kichert und kniet sich vor die wie ein Hammer geformten Steine. Ihr Blick richtet sich ein Stück weiter auf eine andere Steinansammlung. 
»Noel! Schau dort drüben. Das ist der von Annika. Die Beiden sind wirklich noch nicht weit gekommen«, führt sie fort.
»Heute schaffen wir es!«, antworte ich ihr selbstbewusst. »Wir werden endlich sehen, wie die Welt hinter dem Wald aussieht.«
»Und Hannelore wird in dieser Welt freigelassen!«, ergänzt sie und zeigt erneut mit dem Finger in die Luft. 
Dass wir Hannelore mitgenommen haben, gefällt mir nicht. Es fühlt sich an wie Betrug. Wir haben unseren Eltern versprochen, dass wir Hannelore für das Dorffest aufopfern. Aber Anna von ihrem Plan abzuhalten, ist unmöglich. Genauso, wie sie von den sechs Gottheiten, an die meine Mutter und ich glauben, zu überzeugen. 
Wir schlendern weiter den Valan-Pfad entlang. Ich kenne dieses Stück des Pfades gut, da ich es insgesamt zwanzig Mal gewagt habe, mich in den Wald zu bewegen. Anna liegt knapp dahinter mit achtzehn Versuchen. Jedes Mal haben wir uns weiter hineingetraut. Aber heute ist es das erste Mal, dass Anna und ich es gemeinsam probieren. Dadurch ist es angenehmer und ich fürchte mich nicht. Sie strahlt so eine unglaublich ansteckende Fröhlichkeit aus. 
»Anna! Warte kurz!«, unterbreche ich ihren Gang und zeige auf einen Strauch am Wegesrand. »Schau! Diesen Strauch habe ich beim letzten Mal gefunden. Er sieht anders aus, als die üblichen Sträucher. Ist er dir auch schon aufgefallen?«
»Oh! Gib mir einen Moment«, antwortet sie und geht ebenfalls zu ihm hinüber, um sich das Gewächs anzusehen. »Das ist ein Nilidiri-Strauch. Mein Vater hat mir von ihm erzählt. Sie haben längliche dünne Blätter und wenn sie einmal gepflanzt wurden, wachsen sie unglaublich schnell. Erkennen kann man sie aber am besten an ihren blauen, leicht schimmernden Blüten.«
»Ob diese kleinen grünen Beeren, die an dem Strauch hängen, wohl essbar sind?«, frage ich sie und greife nach einer Frucht.
»Halt! Nein!«, stoppt sie mich und greift meine Hand. »Die Beeren sind zwar essbar, aber Vater sagt, sie sind sehr eklig und haben einen kleinen Nebeneffekt.«
»Nebeneffekt? Was denn für einen Nebeneffekt?«, frage ich.
»Naja, das sind Nilidiri-Beeren. Sie erzeugen negative Gefühle in dir. Du erlebst dann große Trauer, Hass oder Furcht«, erwidert sie.
»Oh! Das klingt gar nicht lecker!«, antworte ich überrascht. Das Beeindruckendste an Anna ist ihre schnelle Auffassungsgabe. Sie vergisst nur selten etwas, was sie einmal gelernt hat.
»Das ist einen Entdeckereintrag wert!«, rufe ich und packe mein kleines Notizbuch aus, das ich immer in der rechten Seitentasche trage. 
»Richtig!«, bestätigt Anna und lacht. »Die erste Entdeckung aus den Abenteuern von Noel und Anna.«
Mit einem Stift zeichne ich ein grobes Abbild des Nilidiri-Strauches in mein Buch und erkläre die wichtigsten Merkmale.
»Weiter geht’s!«, spornt mich Anna an. »Da draußen warten viele andere Entdeckungen auf uns.«
Hannelore bewegt sich kaum unter ihrem Arm. Sie hat ein hohes Vertrauen zu ihr. Anna pflegt Hannelore, seit sie aus dem Ei geschlüpft ist, wodurch sie eine große Bindung entwickelt haben.
Wir folgen dem Valan-Pfad weiter und stoßen nach einiger Zeit erneut auf eine Steinmarkierung.
»Da sind wir!«, erwähnt Anna und schreitet mit großen Schritten auf die Steine zu. »Meine Herzmarkierung. Ab hier ist es für mich unbekannt. Wie weit bist du voraus?«
»Noch ein gutes Stück«, antworte ich ihr. »Ich bin das letzte Mal doch bis zu einer Kreuzung gekommen.«
»Oh, stimmt. Du bist echt mutig!«, erinnert sich Anna und hält sich grinsend einen Zeigefinger an die Schläfe.
Im Moment habe ich eher das Gefühl, dass sie die Mutigere von uns beiden ist. Sie spaziert so glücklich und entspannt den Valan-Pfad entlang.
»Zusammen brauchen wir keine Angst mehr zu haben!«, fährt sie fort und schaut zurück. »Das Dorf ist wirklich gar nicht mehr zu sehen.«
Ich drehe mich ebenfalls um. Sie hat recht. Ich erinnere mich daran, dass ich das letzte Mal den Rückweg nahezu gerannt bin. In der Dunkelheit wirkt der Wald wie ein neues Areal. Mutter sagt immer, dass ich in der Dunkelheit unbedingt weiter an das Licht glauben soll, da allein der reine Glaube und das Vertrauen an Stellux mich beschützen.
Anna und ich bewegen uns weiter den Valan-Pfad entlang.
 »Oh mein Gott! Was ist das?«, ruft Anna aufgeregt.
Angespannt verfolge ich ihr Sichtfeld und sie entfernt sich vom Weg. Ich folge ihr zugleich.
»Das ist einfach unglaublich! So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen«, sagt sie erstaunt. 
»Was für eine riesige Blume!«, ergänze ich verblüfft. 
»Wir haben eine neue Entdeckung gemacht! Zeit für einen Entdeckereintrag, Noel!«, fordert sie mich auf und führt ihre Untersuchung fort. »Kniehohe Blume. Vier lange, weiße Blütenblätter und ein rotes Blüteninneres. Wirklich schön!«
Anna setzt Hannelore ab und vertieft sich weiter in die Erscheinung der Blume.
»Ob sie immer so aussieht? Vielleicht ist sie durch die vier Blütenblätter ein seltenes Exemplar? Ist die Farbe sonst anders? Das ist nur auzuschließen, wenn wir mehr davon finden!«, schlussfolgert Anna. 
Jetzt ist sie vollständig in ihrem Element. Ich trage die Pflanze in meinem Entdeckertagebuch ein und sie sucht die nähere Umgebung ab. Hannelore bewegt sich Schritt für Schritt hinter ihr her. Es sieht aus, als sei sie an eine imaginäre Leine angebunden.
»Mist! Ich finde keine Zweite! Wir müssen dem Pfad weiter folgen und die Augen offenhalten!«, flucht Anna und kommt zurück. 
Ich stimme zu und wir bewegen uns wieder auf dem Valan-Pfad. Jetzt, da Anna erkannt hat, dass Hannelore ihr folgt, entscheidet sie sich dagegen, sie erneut zu tragen.
»Dort! Da ist die Kreuzung. Wir sind da«, sage ich und zeige in die Ferne.
Wir laufen zusammen zur Kreuzung. Es sieht genauso aus, wie beim letzten Mal. Der Valan-Pfad führt uns weiter geradeaus und der unbekannte Pfad kreuzt ihn mit einer seichten Steigung.
»Hier ist deine Markierung«, sagt Anna und zeigt auf die Sonne aus Steinen. »Was machen wir jetzt? Gehen wir den Valan-Pfad weiter oder nehmen wir den anderen Weg?«
»Den Pfad zu nehmen ist die sichere Wahl. Schließlich müssen wir auf dem Rückweg dann nur geradeaus«, antworte ich ihr. »Aber neugierig bin ich schon, was sich auf dem anderen Pfad verbirgt.«
Bevor wir uns entscheiden, wird das Gespräch durch ein leises Rascheln unterbrochen. 
»Was ist das?«, flüstert Anna und dreht sich in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. 
»Wir verstecken uns besser!«, schlage ich vor und nehme sie an der Hand.
Ich ziehe sie in ein Gebüsch am Wegesrand. Anna hebt Hannelore wieder auf und versperrt ihr den Schnabel.
»Pssst! Du musst jetzt ganz leise sein«, mahnt sie Hannelore.
Aufmerksam schauen wir uns um. Es ist bisher nichts zu sehen, aber das Rascheln wird durchgehend lauter. Dann ist es soweit und am Rand des unbekannten Weges erscheint eine Gestalt.
»Wer ist das?«, fragt Anna flüsternd.
Ich kenne diese Silhouette. Spätestens, als der Bogen auf seinem Rücken zum Vorschein kam, habe ich ihn erkannt.
»Das ist Torwald! Der Jäger aus dem Dorf. Was hat er vor? Ob er zu den Wölfen geht?«, antworte ich ihr.
»Wir folgen ihm und finden es heraus!«, erwidert Anna selbstbewusst.
»Meinst du das ernst?«, frage ich überrascht. »Was ist, wenn er uns entdeckt?«
»Hannelore und ich sind Meister in der Schleichkunst«, wendet sie ein.
Das ist eine Lüge. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich es nicht schaffe, sie von ihrem Plan abzuhalten. Es bleibt mir keine andere Wahl, als Anna und Hannelore zu folgen. Die Aufregung in mir steigt. Was hat Torwald vor? Kennt er einen Weg aus dem Wald?

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Torwald

Langsam neigt sich der Tag dem Ende zu. Wir verfolgen Torwald, aber es wird bald dunkel. Sich in der Nacht im Wald zu orientieren, ist ohne Hilfsmittel unmöglich. Ich hoffe, wir erreichen in absehbarer Zeit unser Ziel. Mit ausreichendem Abstand bewegen wir uns hinter ihm. Er hat sich bisher kein einziges Mal umgedreht. Zur Sicherheit bleiben wir geduckt in den Büschen am Wegesrand. 
»Meinst du, er geht aus dem Wald heraus?«, frage ich Anna leise.
»Ich denke, er geht zu den Wölfen«, erwidert sie. »Schließlich ist es Torwald. Wenn du genau hinschaust, siehst du, dass er neben seinem Bogen etwas auf dem Rücken trägt. Das sind vermutlich wieder Nahrungsreste aus dem Dorf.«
»Wenn er zu den Wölfen geht, sollten wir viel Abstand halten!«, schlage ich vor. »Die riechen uns doch aus mehreren hundert Metern.«
»Ungefähr zwei Kilometer«, korrigiert mich Anna. »Die müssten uns also vermutlich jetzt schon riechen. Aber wenn das wirklich Fleisch in Torwalds Rucksack ist, müssen wir uns keine Sorgen machen. Ich drehe jetzt bestimmt nicht um!«
Das stimmt, wenn Anna sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht mehr davon abzubringen. Ich hoffe, dass die Wölfe ein höheres Interesse an dem Rucksack haben, als an uns. 
Meine Anspannung steigt stetig und ich bekomme vor Aufregung Schweißausbrüche. Soweit waren wir bisher nie vom Dorf entfernt und der Tag endet bald. Oh, großer Stellux, bitte sorge dafür, dass alles ein gutes Ende nimmt. Meine Entdeckerreise fängt doch erst an.
»Noel, schau!«, ruft Anna aufgeregt und zeigt in die Ferne. »Da ist eine Höhle! Torwald will bestimmt in die Höhle! Ob dort die Wölfe ihr Zuhause haben?«
»Bitte etwas leiser Anna! Oder willst du, dass Torwald uns doch noch entdeckt!«, flüstere ich ihr zu. »Aber du hast Recht - das ist bestimmt das Zuhause der Wölfe.«
»Hannelore! Geh in Deckung!«, flüstert sie der Azurosa zu, die sichtlich nervöser wirkt, aber weiterhin Anna nicht von der Seite weicht.
Gemeinsam bewegen wir uns näher an das Geschehen heran. Torwald steht jetzt vor der Höhle und ruft hinein. Leider verstehen wir keine genauen Worte. 
»Wie viele Wölfe es wohl gibt?«, fragt Anna.
»Ich glaube Torwald hat gesagt, dass es ein sehr großes Rudel ist«, antworte ich.
»Sehr groß? Dann sind es bestimmt über zehn!«, erwidert Anna. »Ich bin so aufgeregt!«
Ich verstehe Anna. Das ist das Aufregendste, das wir bisher erlebt haben. Einmal haben wir versucht, uns in das Wirtshaus zu schleichen. Leider erwischten uns die Erwachsenen im letzten Moment. Es waren überall Wachen aufgestellt. Wir hatten dadurch die Möglichkeit verpasst, die Ratssitzung zu belauschen. Aber wir sind auf dem besten Weg endlich mehr zu erfahren!
»Sie kommen raus!«, merkt Anna aufgeregt an.
Ein Wolf nach dem anderen läuft aus der Höhle und springt Torwald an, so dass dieser vollständig zu Boden sinkt. 
»Man könnte meinen, sie wollen ihn fressen, so wie sie ihn anspringen!«, sage ich. »Er ist fast nicht mehr zu erkennen.«
»Ich glaube, die begrüßen ihn nur. Schau! Er steht schon wieder auf«, korrigiert mich Anna.
Torwald erhebt sich und streichelt einige der Tiere. Es kommen darüber hinaus ungewöhnlich viele Wölfe aus der Höhle, als würde es nie ein Ende nehmen. 
»Ich glaube, dass sind schon mehr als zehn Wölfe«, merke ich an. 
»Das kann nicht sein!«, antwortet Anna überrascht. »Ich zähle über dreißig! Ein normales Wolfsrudel sollte laut unserer Schulbücher nicht mehr als zwölf Tiere beinhalten.«
Doch bevor wir diese Ungereimtheit genauer diskutieren, kommt eine Gestalt aus der Höhle! Sie trägt eine dunkle Kutte mit einer Kapuze und ist kaum zu erkennen.
»Ich fasse es nicht! Wer ist das?«, frage ich beeindruckt. »Es gibt also doch mehr Menschen außerhalb der Dörfer?«
»Das ist eine Frau, oder?«, fragt Anna. »Sie hat jedenfalls eine sehr weibliche Figur.«
Sie wirkt zierlich und hat eine schlanke Taille, soweit man es anhand der Kutte erkennt. 
Torwald kippt seinen Rucksack aus und es fallen einige Essensreste heraus. Im nächsten Augenblick stürzt sich das ganze Rudel auf die Nahrung. Sie knurren sich dabei gegenseitig an und es entsteht eine Rauferei.
 Auf einmal ertönt ein Geheul und ein weiterer Wolf erscheint. Er hat eine Narbe, die sich über seine gesamte rechte Kopfhälfte zieht.
»Ist das nicht der Wolf, der in unserem Dorf war?«, fragt Anna.
»Du hast Recht!«, antworte ich. 
Manchmal frage ich mich, wie sie sich das alles merkt. Es ist ein Wunder, dass ich Torwald vor ihr erkannt habe, als er uns im Wald erschienen ist.
»Wie hieß er nochmal? Warte. Ich habe es gleich«, wirft sie fortführend ein. »Lucky! Er heißt Lucky! Ich habe ihn damals sogar einige Male gestreichelt!«
Lucky bewegt sich langsam auf den Rest des Rudels zu. Die anderen Wölfe weichen ihm aus und entfernen sich von der Futterstelle, so dass er zum Fressen kommt.
»Faszinierend!«, erwähnt Anna. »Das ist bestimmt das Alphatier!«
»Alphatier?«, frage ich unwissend.
»Noel! Hast du überhaupt mal in der Lehre der Biologie aufgepasst?«, fragt sie gereizt. »Das Alphatier ist der Rudelführer. Er leitet das Rudel.« 
»Achso! Das erklärt, warum sie ihn alle an das Futter lassen«, sage ich. 
Ich habe im Unterricht nicht immer aufgepasst. Manchmal bin ich tief in meine Gedanken versunken und bekomme nicht alles mit. Aber für solche Fälle ist Anna da. Ich lächle. 
»Was ist so lustig?«, fragt Anna verdutzt, als sie mich anstarrt. 
»Ach nichts«, antworte ich. »Es ist einfach schön, dass du da bist.«
»Ähm«, reagiert Anna leicht verlegen, »jetzt ist keine Zeit für Komplimente! Wir sind auf Entdeckermission!«
Anna mag es gar nicht, wenn ich ihr ein Kompliment mache. Ich bin bereits sehr lange mit ihr befreundet, aber immer, wenn wir diese Angelegenheit ansprechen, lenkt sie auf etwas anderes ab. Ich sage ihr nicht, dass ich mehr für sie empfinde. Was ist, wenn sie diese Gefühle nicht teilt? Das zerstört unsere ganze Freundschaft.
»Unglaublich! Noel schau hin und träum nicht!«, holt sie mich zurück in das Geschehen. »Torwald! Er umarmt die unbekannte Frau! Und küssen die sich etwa? Iiiih!«
Anna macht eine angewiderte Geste. Ein klares Zeichen dafür, dass ich meine Gefühle zu ihr besser nicht weiter vertiefe. 
»Ob sie ein Paar sind?«, frage ich. »Torwald lebt seitdem wir klein waren allein im Dorf. Vielleicht lebte seine Frau schon die ganze Zeit bei den Wölfen?«
»Warum sollte sie das tun?«, kontert Anna. »Wurde sie verstoßen? Die Geschichte wird immer interessanter!«
Gespannt beobachten wir das Geschehen. Torwald greift in seine Tasche und holt etwas hervor. Es ist eine Wasserflasche. Die unbekannte Frau freut sich und umarmt ihn. Es fällt mir durch die Kutte schwer, sie genauer zu identifizieren. Torwald schraubt die Flasche auf, während sie die Kutte leicht von ihren Füßen entfernt.
»Was wird das denn jetzt?«, fragt Anna überrascht. »Siehst du, was ich sehe, Noel? Ihre Beine sind grün und ihre Füße sehen so ungewöhnlich aus!«
Ich stimme nickend und mit einem bestätigenden Laut zu.
»Ich muss da näher ran! Von hier sieht man einfach nichts«, meckert Anna und pirscht sich weiter vor, bevor ich überhaupt Einspruch erhebe.
Vorsichtig schleiche ich hinter ihr her. Wir sind näher am Geschehen, als es mir lieb ist. 
»Kannst du jetzt mehr erkennen?«, frage ich Anna. Ich sitze dabei mit Hannelore im Gebüsch und bete alle möglichen Götter an, dass unsere Neugierde ein gutes Ende nehme.
»Das kann nicht sein!«, antwortet Anna verdutzt.
»Was denn?!«, frage ich erneut.
»Ihre Beine, ihre Füße«, erwidert Anna und holt tief Luft. »Sie sehen aus wie eine Pflanze. Das sind gar keine Füße. Das sind Wurzeln!«
»Wie bitte?!«, erkundige ich mich und versuche, ein besseres Sichtfeld zu erhaschen. 
Jetzt sehe ich es. Ihre Beine haben zwar die Form von menschlichen, aber ihre grüne Haut ist rau. Sie sieht fast aus wie Rinde. Von den Füßen spreche ich erst gar nicht. Wie Wurzelstränge dringen sie in den Boden ein. 
Anna und ich starren weiter wie gebannt. Im nächsten Moment kippt Torwald das Wasser auf ihre Beine. 
»Ähm«, wirft Anna fragend und deutlich verwirrt ein, während sie ihren Kopf zur Seite neigt. »Gießt er sie jetzt?«
»Ich glaube, ja«, antworte ich. 
Ich bin genauso durcheinander wie Anna. Ich habe so viele Fragen im Kopf. Was ist mit dieser Frau passiert? Ist sie ein Mensch? Wenn sie es nicht ist, was ist sie dann? In welcher Beziehung steht sie zu Torwald?
»Knack!«, gibt einer der Äste von sich, als er vom Rest des Strauches abfällt.
Anna verliert das Gleichgewicht und fällt mit einem lauten Geräusch auf den Weg. 
»Oh, verdammt«, flüstert sie und versucht, sich wieder aufzuraffen. 
Sie hat sich am linken Arm eine kleine, blutende Schramme zugezogen. Zu allem Überfluss hat sie Blickkontakt mit dem Alphawolf aufgenommen, der ihr knurrend in die Augen schaut. Sie wirkt durch den Blick wie gelähmt. 
So schnell, wie nur möglich, schnappe ich mir Hannelore und rufe ihr zu: »Anna! Wir müssen hier weg! Lauf!«
Sie schaut zu mir rüber und nickt. Mit einem Satz rennen wir durch das Gebüsch zurück. Keiner von uns wagt es, sich umzudrehen. Ich weiche den Sträuchern und Ästen so gut es geht aus. Das Azurosa-Weibchen bekommt einige Peitschenhiebe von den Ästen ab und gackert lautstark. Plötzlich halte ich an und Anna läuft direkt von hinten gegen mich, wodurch wir alle drei zu Boden fallen. 
»Noel!«, ruft Anna fluchend meinen Namen. »Warum hast du angehalten? Willst du, dass sie uns einholen?«
»Zu spät«, sage ich und zeige auf den Bereich vor uns, »das haben sie bereits.« 
Vor uns ist Lucky. Der Alphawolf schaut uns mit leicht geducktem Kopf tief in die Augen. Zwei weitere Wölfe stehen direkt neben ihm.
»Wölfe schaffen also wirklich bis zu 60 Kilometer die Stunde«, sagt Anna fasziniert. Es wirkt, als nehme sie die Gefahr der Situation nicht vollständig wahr.
Wir schauen uns um und bemerken, dass wir von den Wölfen umzingelt sind. Für einen kurzen Moment ärgere ich mich über mich selbst. Ich hätte zu Hause bleiben sollen. Vater hat doch Recht damit, dass die Welt hier draußen für uns schlicht zu gefährlich ist. Halt! Nein! Das ist nicht die Einstellung, die Stellux hat. Es gibt immer Hoffnung, ich muss nur daran glauben.
»Was haben wir denn hier?«, ertönt eine weibliche Stimme und unterbricht mich in meinem gedanklichen Durcheinander.
Wir drehen uns um. Es ist die unbekannte Frau. Ich erkenne jetzt ihr Gesicht. Sie hat viele Falten und sieht alt aus. Ihr gesamter Körper ist, soweit ich es durch die Kutte erkenne, mit einer Vielzahl von Blättern und Blüten bedeckt. Alle sehen aus, als wurden sie länger nicht mehr mit Wasser versorgt. Was hat sie mit uns vor?

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Nihidakka

Es dämmert. Die Wolfsherde bildet einen undurchdringbaren Kreis um uns. Mein Blick ist bei Anna, die wie erstarrt, die mysteriöse Unbekannte direkt neben uns mustert. 
»Was hast du mit uns vor?«, fragt sie mit unsicherer Stimme.
»Ihr habt uns heimlich belauscht, nicht wahr?«, erhält sie von der Unbekannten eine Gegenfrage zurück.
Ich mische mich in die Unterhaltung ein und antworte, bevor Anna zu Wort kommt: »Wir sind nur Torwald gefolgt. Ehrlich! Wir dachten, es bestehe die Möglichkeit, dass er aus dem Wald hinaus geht.«
»Und was bitte, um alles in der Welt, wollt ihr zwei außerhalb des Waldes? Wo sind eure Eltern? Es ist euch nicht gestattet, den Wald zu verlassen!«, betritt Torwald aufbrausend das Geschehen. 
»Wir sind Entdecker!«, erwidert Anna. 
Torwald schaut überrascht und sagt: »Wie bitte? Entdecker? Werdet erst einmal Erwachsen! Ihr ...«
Bevor er seinen Satz beendet, unterbricht ihn die Unbekannte, indem sie eine gestreckte Hand in seine Richtung erhebt und sagt: »Torwald genug! Ich verstehe sie.«
Ich bin erstaunt. Verteidigt Sie uns gegen Torwalds Vorwürfe?
»Wisst ihr, auch ich wollte einst in die Welt hinaus«, erklärt sie uns und begibt sich zu einem der nahegelegenen Bäume. Sie berührt ihn mit der flachen Hand. »Ich wollte sie alle kennenlernen – jeden einzelnen Baum, jeden Strauch, jedes Lebewesen. Mein Volk hat es mir auch verboten.«
»Warum haben sie es dir verboten?«, wirft Anna ein.
»Ich bin eine Naturwächterin. Euer Volk nennt uns Dryaden. Wir dienen dem Gott Anaragai. Man nennt mich Nihidakka Aldikki. Ihr könnt mich einfach Nika nennen«, führt sie fort und lächelt uns dabei an.
»Die Kinder sollten das nicht wissen. Beenden wir das Gespräch und ich bringe sie zurück in das Dorf!«, unterbricht Torwald die Erzählung und geht fordernd ein paar Schritte auf Nika zu.
Diese dreht sich zu ihm und berührt ihn mit der rechten Hand an der Wange.
»Liebster, verstehst du nicht? Sie sind wie ich!«, erklärt sie Torwald, der ihr tief in die Augen schaut. »Wenn ich damals nicht geflohen wäre, hätten wir uns dann jemals getroffen?«
Torwald verschließt kurzzeitig die Augen und schnauft.
»In Ordnung. Ich bringe euch aus dem Wald, aber nicht heute!«, gibt er nach. »Es dämmert bereits und ich werde im Dorf für die Vorbereitung auf das morgige Fest erwartet.« 
»Vielen Dank, Liebster«, bedankt sich Nika mit einem Kuss auf die Wange. Anna ist erneut davon angewidert.
Torwald will uns aus dem Wald bringen? Ich fasse es nicht. Vor einigen Minuten war ich fest davon überzeugt, dass wir einer Horde Wölfe zum Fraß vorgeworfen werden. Das ist das Werk von Stellux! Die Hoffnung hat sich ausgezahlt.
»Anna! Hast du das gehört?«, flüstere ich ihr zu. »Sie wollen uns aus dem Wald bringen! Wir haben es geschafft!« 
Ich stelle fest, dass sie nicht mehr neben mir ist. Sie ist ... ich traue meinen Augen nicht. Sie bewegt sich zu den Wölfen. Und zwar nicht zu irgendeinem Wolf, sondern zum Alphatier: Lucky. 
»Bist du wahnsinnig! Was machst du schon wieder?«, rufe ich ihr hinterher. 
»Vorsicht, junge Dame!«, ruft Nika ihr warnend zu. »Er kann sehr unberechenbar sein.«
Anna ignoriert uns und bewegt sich weiter auf das Alphatier zu. Das ist typisch für sie. Diese Art von ihr gefällt mir. Ich handle niemals, ohne vorerst über die Folgen nachzudenken. Wir ergänzen uns dadurch.
»Seht ihr das nicht?«, antwortet Anna einen Moment später. »Er ist verletzt! Hier! An der Pfote!«
Sie deutet auf die rechte Vorderpfote des Wolfes. Lucky leckt sie sich kontinuierlich ab.
»Ich habe gelesen, dass das Lecken der Pfote ein Zeichen für eine Verletzung sein kann«, erläutert sie. »Durch das Lecken lindert sich der vorhandene Juckreiz. Es gelangen positive Botenstoffe an das Gehirn.«
Zeit für eine erneute Lehrstunde von Frau Funkenblitz. Wie merkt sie sich all diese Sachen in ihrem Kopf. Ein Blick zu Torwald und Nika zeigt mir, dass ich nicht der einzige Erstaunte bin. 
Sie ist bei dem Wolf angekommen. Lucky starrt sie untersuchend an und weicht einen Schritt zurück. Anna macht sich klein und hält ihm vorsichtig ihre rechte Hand entgegen. Unterwirft sie sich? Ich erinnere mich an ein Buch aus meiner Schulzeit, indem ein solches Verhalten beschrieben war.
»Es dauert Jahre, Vertrauen zu einem Wolf aufzubauen! Besonders zu diesem hier! Anna, lass es bitte gut sein! Als er im Dorf war, hatte ich ihn an einer Leine und er hatte einen Maulkorb. Das war eine ganz andere Situation!«, fordert Torwald und rückt auf meine Höhe auf. 
»Damals hatte ich es auch geschafft, ihn zu streicheln. Ich darf ihm nur nicht in die Augen schauen. Das ist für ihn eine Drohung«, führt Anna ihre Lehrstunde fort. »Zeige ich ihm hingegen meine Körperseite, ist es eine Provokation. Ich muss irgendwie an seine Pfote herankommen, damit ich sehen kann, was damit nicht stimmt.«
Lucky schnuppert an ihrer Hand. Er weicht nicht mehr zurück. Die Berührung der Pfote lässt er zu.
»Ich glaube nicht, was ich da sehe«, wirft Torwald neben mir erstaunt ein.
Nika bewegt sich ein paar Schritte vor und ist auf unsere Höhe. Sie hat ein Lächeln auf dem Gesicht und sagt: »Er mag das Mädchen. Ich kann es fühlen. Er wird ihr nichts tun.«
Sie greift die Hand von Torwald, die er angespannt und griffbereit an seinem Bogen hat. Er senkt sie und atmet tief durch.
»Da! Ich habe es! Wusste ich es doch!«, schließt Anna ihre Diagnose ab. »Er hat Holzsplitter in der Pfote! Vermutlich von der Verfolgungsjagd von eben. Ich entferne sie.«
Sie greift unter ihr Kleid und holt einen Beutel an ihrem Bein hervor. Hat sie den die ganze Zeit darunter getragen? Er ist an ihrem Bein mit einer Schnalle befestigt. Das ist mir vorher nie aufgefallen.
»Papa rät mir zum Glück immer, dass ich nie ohne ein kleines Erste-Hilfe-Set das Haus verlassen soll«, sagt sie lächelnd und wendet sich im Anschluss wieder der Pfote zu. »Es wird alles gut Lucky. Das haben wir gleich. Schau! Ich habe mich auch verletzt.«
Sie zeigt dem Wolf die Verletzung an ihrem linken Arm. Stimmt! Anna hat eine Wunde von dem Fall vorhin, der uns überhaupt in diese Situation gebracht hat. Im Anschluss holt sie eine Zange aus dem Beutel und macht sich an die Behandlung.
»Ganz vorsichtig«, redet sie konzentriert vor sich hin. »Nur ein kleiner Zug und er ist wieder raus. Dann geht es dir wieder besser.«
Zack! Mit einem Ruck zieht sie den Holzsplitter heraus. Lucky zuckt kurz zusammen, beruhigt sich aber direkt wieder, als Anna ein paar wohltuende Laute von sich gibt. Die Behandlung ist geglückt.
»Oh, lass das!«, sagt Anna lächelnd. Das Alphatier wirft sie freudig zu Boden und leckt ihr Gesicht.
»Wir müssen dringend los!«, unterbricht der Jäger die fröhliche Stimmung. »Es ist schon sehr spät. Eure Eltern suchen euch bestimmt verzweifelt. Ich werde ihnen sagen, dass ich euch ein wenig das Jagen beigebracht habe.«
Torwald hat recht. Anna und ich stimmen seinem Vorschlag zu und wir verabschieden uns samt Hannelore und Torwald von Lucky, dem Rudel und Nika. Was für ein Erlebnis! Sobald ich zuhause bin, fülle ich weitere Seiten meines Entdeckertagebuchs. Morgen bringt uns Torwald, wie versprochen, aus dem Wald. Unser Abenteuer ist zum Greifen nahe!

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Vater

Die Nacht ist hereingebrochen. Torwald wandert mit einer Fackel wenige Schritte vor Anna und mir. Er ist, wie viele Erwachsene bei uns im Dorf, ein Experte im Feuer entfachen.
Wir sind zurück auf dem Valan-Pfad. In der Ferne sehe ich die Lichter aus dem Dorf. Die Fackeln für die Nacht sind entzündet. Meine Eltern und Norbert suchen uns sicher. Am meisten sorge ich mich um meine Mutter. Sie gerät häufig in Panik, wenn etwas nicht stimmt. Das letzte Mal, als ich nicht pünktlich zu Hause war, saß sie bei meiner Rückkehr mit Tränen überzogen im Haus und atmete schwer. Dabei war ich mit Anna am Aussichtspunkt in unserem Dorf und wir haben die Zeit vergessen. Die westliche Seite unseres Dorfes ist nicht von Wald umgeben. Es gibt dort eine winzige Anhöhe. Mein Vater, Lars, hat dort zusammen mit Norbert, dem Vater von Anna, Sitzbänke und einen Tisch aufgebaut. 
Sie ermöglicht eine Sicht auf das Wasser, das sich von der Klippe bis zum weiten Horizont in der Ferne erstreckt. An diesem Tag rätselten wir darüber, was hinter dem Wasser ist. Wir sitzen gerne dort und starren auf das Meer. Eines Tages entdecken wir etwas Besonderes! 
In der Schule lernten wir das Meer und seine Bewohner kennen. Die Lehrerin erzählte uns von Fischen und Meeresungeheuern. Sie empfahl, das Meer deswegen zu meiden. Es sei, wie alles außerhalb des Waldes, zu gefährlich. 
»Da kommt jemand auf uns zu! Schaut!«, sagt Anna und zeigt mit ihrer Hand den dunklen Valan-Pfad entlang. 
Bis auf die Fackeln erkenne ich in der Ferne nichts. Dann bemerke ich, dass die Lichter sich bewegen. Ich sehe menschliche Umrisse. Sie rennen auf uns zu. 
»Anna! Anna!«, hallt eine Stimme durch die Stille des Waldes. Es ist Norbert.
»Papa?«, erwidert Anna. »Es ist Papa! Papa!« 
Im nächsten Schritt rennt sie fröhlich auf ihren Vater zu. Die Bindung zwischen den beiden ist stark. Ihr Vater hat sie sicherlich sehnlichst vermisst. Seit dem Tod von Luise ist Anna alles, was er hat und liebt.
Während Anna bei ihrem Vater angekommen ist und ihn glücklich umarmt, schaue ich den Pfad entlang. Weitere Personen nähern sich. Es ist zu ahnen, dass Vater darunter ist. Meine Mutter Selena ist zu Hause. Er lässt sie bei solchen Suchaktionen nicht hinaus. Ohne die Lage nicht überprüft zu haben, wären das Risiko und die Gefahr für sie zu groß. Er ist übervorsichtig.
»Überlass mir das Reden, Noel«, fordert mich Torwald mit einem strengen Blick von der Seite auf. »Egal, was gesagt wird. Ich werde das Ganze schon klären. Misch dich unter keinen Umständen ein.«
Ich nicke ihm zu. Das klingt, als würde er einen größeren Konflikt erwarten. Was verunsichert ihn? Bevor ich darüber weiter nachdenke, sind wir bei Anna und Norbert angekommen. Vater und das Dorfoberhaupt Valan Brenshar sind mit drei weiteren Männern ebenfalls auf unserer Höhe. 
»Noel!«, erklingt es von meinem Vater. »Wo um alles in der Welt seid ihr gewesen? Deine Mutter ist krank vor Sorge. Wie kannst du ihr das antun?«
Im Augenwinkel sehe ich, wie mir Anna einen bemitleidenden Blick zuwirft. Sie kennt meinen Vater zu gut und weiß, wie wütend er ist.
Bevor ich antworte, stupst mich Torwald von hinten an. Stimmt. Ich überlasse ihm das Reden.
 Er erklärt: »Beruhige dich, Lars! Ich bin mit den Beiden nur ein wenig auf der Jagd gewesen. Sie wollten auch etwas zum Dorffest beitragen.«
»Auf der Jagd?«, fragt mein Vater. »Und wozu braucht ihr bitte das Federvieh auf der Jagd?«
Er deutet auf Hannelore, die am Fußende von Anna den Boden absucht. Ich schaue zu Torwald hinüber, der ebenfalls das Azurosa-Weibchen mustert. Verdammt! Auf diese Frage ist er nicht vorbereitet. 
»Natürlich brauchen wir eine Azurosa auf der Jagd, Herr Forstschlag. Sie sind eine Jagdunterstützung!«, mischt sich Anna ein.
Die erfahrenen Männer werfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Norbert fragt seine Tochter: »Wie kommst du denn darauf, mein Schatz? Das habe ich noch nie gehört.«
»Tja, Papa! Kein Wunder! Ich bin letztlich auch in unserer Familie diejenige, welche täglich unsere Lehrbücher studiert. Das steht in meinem Sachbuch ›Ein Azurosa fürs Leben‹. Ich habe es von unserer Lehrerin Frau Hammelblatt geschenkt bekommen, um die Zucht besser zu verstehen.«
Norbert schaut mit einer erstaunten Geste zu Vater und Valan hinüber. Er scheint seiner Tochter zu glauben. Die anderen Männer wirken weiterhin überrascht, hinterfragen die Erklärung aber nicht. Anna ist bekannt dafür, sich mit allem im Dorf und den dort lebenden Tieren auszukennen. Keiner sonst hat die Bücher wie sie studiert. Ein hervorragender Trick von Anna. Torwald ist beruhigt, alles wieder im Griff zu haben.
»Azurosa hin oder her!«, ergreift Valan das Wort. »Tatsache ist, dass du die Gesetze unserer Gemeinschaft missachtet hast, Torwald. Ich bin schwer enttäuscht.«
Valan Brenshar schüttelt den Kopf und schaut bedrückt zu Boden. Er stützt sich dabei an einem Gehstock ab. Seit einiger Zeit hat er Schmerzen in den Gelenken. Er ist einer der ältesten Bewohner in unserer Dorfgemeinschaft. Die meisten seiner Haare sind ihm ausgefallen. Durch seinen langen Bart wirkt es, als hätte er sie von seinem Kopf abgeschnitten und am Kinn festgenäht. Wir kennen uns nicht gut. Ich grüße ihn ab und zu auf Feiern und er erzählt den Kindern gerne einmal Geschichten. Sie enden durchgehend mit den Sätzen: »Entfernt euch niemals vom Dorf. Dort ist es zu gefährlich!« Es ist immer das Gleiche.
»Valan! Das muss eine Strafe zur Folge haben«, fordert ihn mein Vater wütend auf. »Besonders in der jetzigen Lage, in der wir uns aktuell befinden, war es mehr als fahrlässig, die Kinder auf solch einen Lehrgang in den Wald mitzunehmen.«
»Ich gebe Lars recht!«, fügt Norbert hinzu.
Eine Strafe? In der jetzigen Lage? Ich versuche zu verstehen und erinnere mich an das Gespräch von Norbert und Valan, bevor wir am Nachmittag aufgebrochen sind. Es handelte von den fehlenden Ressourcen für die Schmiede. Wie hängen diese Dinge zusammen? Warum ist es gefährlich? Bereiten sie sich auf einen Kampf vor? Kurzweilig läuft mir ein Schauer über den Rücken und ich bekomme eine Gänsehaut. Ist die Dryade Nika die Gefahr und Torwald beschützt sie heimlich? Die anderen scheinen nichts von der Dryade zu wissen. Nein. Sie wirkte vorhin freundlich und hilfsbereit. 
»Ihr habt Recht!«, kommt Valan erneut zu Wort. »Torwald, ich sage dies wirklich ungern, aber du hast zum wiederholten Male gegen die Regeln verstoßen. Ich werde dich vorerst in unser Verlies sperren.«
»Wie bitte? Das könnt ihr nicht machen!«, erwidert Torwald. 
Er rückt einige Schritte vor und streckt seine Hand mit dem Handrücken nach oben und gespreizten Fingern aus. Mit dieser Strafe hat keiner gerechnet. Norbert und mein Vater wirken von der Schwere der Strafe ebenfalls überrascht. 
Torwald darf nicht in das Verlies! Anna und ich schauen uns besorgt an. Er ist unser Weg aus dem Wald! Verdammt! Noch nie ist jemand in das Verlies geworfen worden. Anna und meine Blicke kreuzen sich erneut. Wir sind uns einig. Torwald muss gerettet werden. Er ist die einzige Chance, einen Weg aus dem Wald zu finden. Wie stellen wir das an? Unsere Väter werfen in den nächsten Tagen sicher ein genaues Auge auf uns. Die Lage ist angespannt.
Wir sind auf dem Rückweg. Ich bemerke, wie Torwald vor uns fluchend in seinen Bart murmelt und zeitweise seinen Kopf dabei schüttelt. Er wird von zwei Erwachsenen begleitet. Vermutlich hat Valan die Sorge, dass er flüchtet. Anna hat Hannelore wieder auf dem Arm und ist neben ihrem Vater Norbert. Sie sieht angeschlagen und müde aus. Ihr Kleid schimmert im Licht der Fackel, die ihr Vater trägt. Es hat heute eine Menge abbekommen. Zu unserem Glück hat niemand ihre Verletzung am Arm bemerkt. 
Wir sind im Dorf angekommen und ich verabschiede mich von Anna: »Bis Morgen.«
»Bis Morgen, Noel!«, erwidert sie ebenfalls.
»Das werden wir sehen«, unterbricht mein Vater den Abschied. »Wir haben noch ein ernstes Wort miteinander zu reden, mein Sohn!«
Er packt mich grob am Arm und wir stapfen zum Haus. Ich schaue zu Anna und rolle die Augen. Sie lächelt und hebt ihre Hand, wobei sie Daumen und Zeigefinger gegeneinander bewegt.
Zu Hause kommt mir meine Mutter mit Tränen in den Augen entgegen und ruft: »Noel! Oh Stellux, ich danke dir, dass du mich erhört hast! Da bist du endlich!« 
»Es tut mir leid, Mutter«, entschuldige ich mich und falle bedrückt in ihre Arme. »Wir waren mit Torwald unterwegs. Er hat uns gezeigt, wie man jagt!«
Nach einer festen Umarmung schaut sie mich an und sagt: »Torwald? Halte dich bitte von ihm fern, Noel. Der Mann bringt doch nichts als Ärger!«
Mutter hat Angst, dass mir ein Unglück passiert. Ich würde ihr gerne erzählen, was wir heute erlebt haben. Das hätte aber zur Folge, dass ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr Hausarrest und einen persönlichen Wächter bekomme.
 »Ich bin schwer enttäuscht, mein Sohn!«, sagt Vater. »Du hast mich heute Mittag angelogen. Norbert hat mit dir nicht über die Dinge außerhalb des Waldes gesprochen. Lügen ist sicherlich keine Eigenschaft die Stellux fordert, oder?«
 Sein Blick richtet sich zu meiner Mutter. Er glaubt nicht an die Götter, hat aber genügend Informationen von Mutter erhalten und setzt sie erfolgreich gegen mich ein. Ich verabscheue das Lügen. Das war eine Notlüge. Stellux ist sicher auf meiner Seite. Da sorge ich mich nicht.
Vater führt seine Rede lautstark fort: »Und am Ende bringst du dich und Anna in Gefahr, in dem ihr mit diesem Torwald allein durch den Wald zieht. Ich dachte wirklich, du wärst erwachsener und ich könnte dir vertrauen, mein Sohn.«
 »Lars, bitte«, reagiert Mutter und stellt sich schützend vor mich. »Der Junge hat heute viel durchgemacht und ist müde.  Es ist bereits sehr spät. Ich bringe ihn zu Bett.«
 »Selena, ich bitte dich!«, reagiert er erbost und schwingt seine linke Hand kurzzeitig in die Luft. »Du kannst den Jungen nicht jedes Mal ungeschoren davonkommen lassen. Das geht einfach nicht mehr!«
 Mutter ignoriert die Worte meines Vaters und schlingt ihren rechten Arm um mich. Wir gehen auf mein Zimmer.
 »Keine Sorge – ich rede mit deinem Vater. Aber bitte versprich mir, dass du mehr auf dich aufpasst und mir nicht immer solche Sorgen bereitest, in Ordnung?«, bittet sie mich höflich mit einer ruhigen Stimme.
 Ich nicke ihr bestätigend zu und antworte: »In Ordnung, Mutter.«
 »Sehr gut, Noel«, freut sie sich und lächelt mich an. »Dann mach dich bitte ganz schnell bettfertig.«
Mutter diskutiert mit Vater im Wohnraum. Ich ziehe mich aus. Mit dem Eimer und Lappen, den mir meine Mutter zurechtgelegt hat, wasche ich mich. Im Anschluss ziehe ich mir mein Nachthemd an und begebe mich gähnend zu Bett. 
Der Tag war aufregend. Es sind viele Fragen in meinem Kopf. Wie befreien wir Torwald aus dem Verlies? Was hat es mit Nika auf sich? Was ist eine Dryade? Gibt es mehr unbekannte Wesen auf der Welt? Ob Anna schon schläft? Mit jedem Gedanken überkommt mich mehr Müdigkeit und ich schlafe langsam ein.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Traum

Ein unbekannter Raum. Mein Sichtfeld ist stark verschwommen. Ich reibe meine Augen und blinzle. Es führt zu keiner Verbesserung. Beunruhigt schaue ich mich um und versuche, mehr wahrzunehmen. Mein Körper fühlt sich schwer und träge an. 
Als ich an mir heruntersehe, bemerke ich, dass ich eine Rüstung trage. Davon habe ich welche bei Norbert in der Schmiede gesehen. Das Sichtfeld ist jetzt klarer. Wo bin ich hier? Es wirkt alles grell und weiß um mich herum. Weit und breit sind keine Bäume oder das Dorf in Sicht. 
Plötzlich ertönt ein Knall. Was ist passiert? Ich drehe mich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Eine Menschenmenge kommt mir mit panischen Gesichtern entgegen. Sie sind mir fremd. Ich schaue mich nach der Ursache um. Nichts. Ich sehe nicht weit genug und bewege mich daher entgegen der Fluchtrichtung der Menschenmenge, um die Ursache zu finden. Jeder Schritt fühlt sich durch die schwere Rüstung anstrengend an. Es erinnert mich an den Moment, als ich für Vater das Holz in das Lager getragen habe.
Die Farbe in meinem Sichtfeld verändert sich. Es verdunkelt sich, bis ich nur ein schwarzes Feld vor mir sehe. Von der Ursache weiterhin keine Spur. Mit einem Mal erscheint ein Lichtpunkt in der Ferne. Ich versuche, ihn mit meinen Augen zu fokussieren, er bewegt sich aber zu schnell hin und her. 
»Hilfe! So hilf mir doch jemand«, erschallt eine schrille Stimme aus der Ferne. 
Ich erkenne nicht, ob es sich um eine männliche oder weibliche Stimme handelt. Ohne zu zögern, erhöhe ich meine Schrittgeschwindigkeit. Die Rüstung erschwert einen Sprint. Ich schließe weiter zu ihm auf. Er wächst mit jedem Schritt und die Hilferufe sind jetzt klar verständlich. 
»Sie ... sie da vorne! Sind sie hier, um zu helfen? Sie sehen aus wie ein mutiger Held!«, spricht der Lichtpunkt. 
Er hat mich bemerkt. Als ich den Punkt genauer mustere, stelle ich verblüfft fest: Es ist ein sprechender Lichtpunkt. Dahinter verbirgt sich kein Mensch. Sein Äußeres wirkt verzerrt und pulsiert hektisch. 
Ich stehe direkt vor ihm und spreche ihn an: »Was ist passiert? Woher kam der Knall?«
»Es ging alles so plötzlich!«, antwortet er panisch. »Sie sind gekommen! Sie sind hier! Unsere Nachbarn sind noch dort ... Familie Barhain – sie sind in ihrem Haus verschüttet.«
»Wer sind denn ›sie‹?«, frage ich den Lichtpunkt erstaunt.
»Alpakale! Sie sind in den Häusern. Retten sie bitte das Ehepaar Barhain! Sie haben auch zwei Kinder! Bitte!«, fordert mich der Punkt auf.
Bevor ich die Möglichkeit habe zu antworten, verschwindet er. Was ist hier los? Als ich über die Rettung nachdenke, bekomme ich ein vertrautes Gefühl! Ich rette sie! Aber was sind Alpakale ...?
Es erscheint ein großes Haus aus Stein vor meinen Augen. Wie haben sie es geschafft, Steine in diesen Höhen zu stapeln? Ich erinnere mich daran, wie aufwändig es war, die Holzfällerhütte meines Vaters vor einigen Monaten neu zu sanieren. Wenn ich darüber nachdenke, dass wir Steine anstatt Holz als Material verwendet hätten, dann wären wir heute noch nicht mit dem Bau fertig.
Ich atme kurz durch. Bei dem Gedanken, das Haus zu betreten, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich greife reflexartig an meine rechte Hüfte und fasse einen Schwertgriff. Ein Schwert? Ich ziehe die Waffe aus ihrer Scheide und mustere sie. Erneut dieses vertraute Gefühl. Ich schwinge einige Male mit dem Schwert umher. Ich habe zusammen mit Norbert und Anna die Schwertkunst geübt, erinnere mich aber nicht daran, sie in dieser Form gemeistert zu haben. 
Der Eingang ist mit einer Steintreppe geschmückt. Langsam schreite ich die Treppe hinauf und horche mich um. Stille. Kein Windzug oder knatschendes Holz in der Ferne. Es ist nichts zu hören, außer meinen eigenen Schritten. Die Tür des Hauses ist aus Holz. Lediglich die Klinke und einige andere Kleinteile sind aus Metall. Ich erinnere mich an die Lehrstunden von Norbert in der Schmiede. Es handelt sich um Bronze. 
Auf den zweiten Blick erkenne ich, dass die Tür einen Spalt offensteht. Ich bleibe auf der Hut und halte mein Schwert in Kampfhaltung. 
Ich schiebe die Tür weiter auf. Obwohl im Inneren des Hauses keine Lichtquelle sichtbar ist, sehe ich klar. Warum? Ich schaue mich genauer um. 
Erstaunlich ... Ich bin der Ursprung! In einem Radius von einigen Metern um mich herum, erzeuge ich Licht. Wie ist das möglich? 
Ich mustere den Eingangsbereich des Hauses. Die Wände sind aus Stein und zwei von drei Abschnitten sind komplett verschüttet. Ich schaue mich weiter um. Es hängen Bilder an den Wänden. Zwischen einigen abstrakten Bildern fällt mir eines besonders ins Auge: ein Bild mit einer Frau, einem Mann und zwei Kindern. Das ist die Familie Barhain.
Ich versuche, mir ihre Gesichter zu merken. Der Vater trägt einen langen schwarzen Bart und hat eine Narbe am rechten Auge. Die Mutter hat langes blondes Haar und einen dunklen Hautfleck am Kinn. Oder ist ein Wasserfleck auf dem Bild? Die Kinder sind jung. Es sind nahezu gleichaltrige Brüder. Ich schätze sie auf acht Jahre. 
Ein Junge hat schwarzes kurzes Haar. Er ist blass im Gesicht und zeigt keine Emotionen. Sein Bruder hat langes gewelltes Haar. Seine Augenbrauen wirken ungewöhnlich lang. Er hat auch ein blaues und ein rotes Auge. Das habe ich nie zuvor gesehen. 
Ein Schrei unterbricht meine Beobachtungen. Schrill klingt er durch den Eingangsbereich. Ich schrecke zusammen. Er ist weiblich und kommt aus dem frei zugänglichen Areal des Hauses. Das Bauwerk fasziniert mich, aber ich darf nicht aus den Augen verlieren, dass die Familie in Gefahr ist. 
Ich eile in den nächsten Raum. Eine Küche. Ein Esstisch schmückt das Zentrum und an den Seiten füllen Schränke mit Geschirr und weiteren Küchenutensilien die Leere. Ein weiteres Mal fasziniert mich das Design. Wenn ich die Familie gerettet habe, sehe ich mir das genauer an. 
Nächster Raum: eine Abstellkammer. Ist der Schrei von hier gekommen? Mehrere Regale mit unterschiedlichsten Nahrungsgütern zieren den sonst leeren Bereich. Dadurch ist der Raum selbst mit dem Licht schwer einsehbar. 
Ich rufe in die Dunkelheit: »Hallo? Ist hier jemand? Ich bin gekommen, um euch zu helfen.«
Nach einer kurzen Stille ertönt tatsächlich eine weibliche Stimme: »Es ist zu spät! Wir können nicht mehr fliehen. Sie sind bereits hier!«
»Wer ist hier? Wo sind sie? Kommen sie ins Licht, dann bringe ich sie heraus«, erwidere ich. 
Für einen kurzen Moment ist wieder Stille. Danach ertönt ein Schluchzen von einem der hinteren Regale und ein Kopf dringt aus dem Schatten hervor. Es ist eine Frau im mittleren Alter mit hellem, zerzaustem Haar. Es ist eindeutig. Sie sieht zwar mitgenommen aus, aber es handelt sich um Frau Barhain. Der Hautfleck war doch nur ein Wasserfleck. 
»Wer ... wer sind sie?«, fragt sie verwundert. »Sie haben ein Schwert. Können sie kämpfen? Sie müssen uns helfen!«
Ich antworte: »Mein Name ist Noel. Ich bin ...« 
Für einen kurzen Moment halte ich ein. Wer bin ich gerade? Bin ich ein Kämpfer? Ein Held? Warum sagen mir das alle? Ich verstehe es nicht.
»Ich bin hier, um ihre Familie zu retten, Frau Barhain«, ergänze ich. 
»Meine Familie?«, erwidert sie.
Sie stolpert auf mich zu und bricht kurz vor mir zusammen. Ich halte sie im letzten Moment fest und drücke sie vorsichtig an mich. Meine Rüstung ist hoffentlich nicht zu unbequem. 
Sie schluchzt abermals und führt das Gespräch fort: »Dann retten sie bitte meine Kinder! Meinen Mann! Sie sind verschüttet in den oberen Etagen! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie von ihnen gejagt werden.«
Ich erkundige mich: »Von wem werden sie gejagt?«
»Ihr wisst es nicht?«, fragt sie fassungslos. »Die Alpakale. Sie sind gekommen, um uns alle zu jagen. Die Vorboten des Unheils.«
»Alpakale? Was ist das?«, frage ich.
Sie schaut verdutzt und sagt: »Ihr scheint nicht von hier zu sein, oder? Alpakale sind Diener der Dämonen! Bösartige Kreaturen der Nacht.«
Sie führt ihre Erläuterung fort, aber ich verstehe ihre Begriffe nicht. Was sollen diese Wesen sein? Eine Art Tiere? 
Erneut stört ein Geräusch die Stille und die Erde fängt an zu beben. Es klingt, als wenn Steine brechen und fallen. Frau Barhain zuckt in meinen Armen stark zusammen. Ich bleibe dieses Mal ruhig und drehe mich in Richtung Küche. Es ist nichts zu sehen.
»Sie sind hier. Ich kann fühlen, wie sie sich von meiner Angst ernähren. Ich ... Ich darf mich nicht fürchten!«, versucht sie sich zu ermutigen. 
Sie ernähren sich von ihrer Angst? Was sind das für Tiere? Ich habe von diesen Dämonen nie gelesen. Mein Geist verspürt momentan keine Angst. Er ist beherrscht von Verwirrung und offenen Fragen.
»Bitte! Ihr müsst sie retten. Ich werde hier warten!«, fordert sie mich auf.
Sie hat recht. Für einen kurzen Moment denke ich an Anna. Sie wäre längst im oberen Stockwerk. Ich lächle in mich hinein und verliere keine weitere Zeit mehr.
»Ich werde ihre Familie finden«, beruhige ich Frau Barhain und entferne mich mit erhobenem Schwert aus der Kammer. 
Zurück in der Küche schaue ich mich zur Sicherheit um. Plötzlich passiert es! Ein Schatten huscht durch den Eingangsbereich! Für einen kurzen Moment sehe ich ihn. Wo ist er hin? Es war definitiv nicht der Schatten eines Menschen. Vier Beine – hüfthoch mit einem Schwanz und einem Kopf. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Wolf. Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt. Ich muss mich beruhigen und einen kühlen Kopf bewahren.
Während ich mich langsam zurück zum Eingang bewege, bete ich zu Stellux: »Oh Stellux! Ich bitte dich, steh mir bei. Ich muss diese Familie aus diesem unheimlichen Haus befreien.« 
Ein Gefühl der Wärme durchströmt mich. Ich schaffe das. Schließlich bin ich ... ein Held.
Eine der verschütteten Stellen ist freigeräumt. Es ist eine unglaubliche Kraft notwendig, all diese Steine zu bewegen. Das ist nicht das Werk eines Wolfes. Der Weg führt über mehrere durcheinanderliegende Steine in das obere Stockwerk. Schritt für Schritt bahne ich mir einen Weg und hoffe, dass mein Gewicht keine weiteren Steine unter mir zum Einsturz bringt.
Im oberen Stock ist der Boden aus Holz. Die Bretter sind älter und knarren durch den Flur. Ich halte einen kurzen Moment inne und horche in die Stille. Das Knarren ist nicht das Einzige, das ich wahrnehme. Ich höre ein Tapsen auf dem Holz. Es ist schnell und kommt aus einem der anderen Räume. Ich bin kampfbereit – auch wenn ich nicht weiß, was mich erwartet.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Alpakal

Ich mustere meine nahe Umgebung. Der Korridor ist lang und die rechte Seite ist verschüttet. Das Haus ist an diversen Stellen in sich zusammengefallen. Von außen habe ich diese Schäden nicht bemerkt. Sie sind lediglich im Inneren.
Das Tapsen auf dem Holzboden kommt von der linken Seite. Eine Wand trennt mich von dem Geräusch. Es ist sicher ein Alpakal. Ob er mich, wie ein Wolf, riecht? Mit erhobenem Schwert gehe ich langsam und mit äußerster Vorsicht durch den Korridor. Die Rüstung ist zu schwer. Das Schleichen ist nicht vollständig geräuschlos.
Am Ende des Flurs kreuzt sich der Weg in zwei Richtungen. Ich entscheide mich für den linken Weg. Die Anspannung zieht sich durch den ganzen Körper und mein Herz schlägt lauter als das Tapsen des Alpakals. Ich hoffe, er bemerkt mich nicht. Die Tatsache, dass ich wie eine kleine Kerze leuchte, ist kein Vorteil. Ich versuche, das Licht auszuschalten, nur wie? Ich denke in mich hinein: Licht aus! Kein Erfolg. Es bleibt hell. Immerhin sehe ich den Alpakal dafür.
Mit gehobener Klinge schreite ich um die Ecke und schaue mich um. Ein weiterer langer Korridor ist vor mir und direkt links erhasche ich eine offene Tür. Das Tapsen hat aufgehört. Ich horche erneut in die Stille und bewege mich nicht von der Stelle. Auf einmal füllt ein schriller, lauter Ton die Ruhe. Er dröhnt im Kopf. Reflexartig verschließe ich die Ohren mit den Händen. Ich bekomme einen starken Schweißausbruch und mein Herz schlägt schneller und schneller. Was passiert hier? Woher kommt diese urplötzliche Panik? Ich knie mich hin und presse meine Hände härter an die Ohren. Der Ton endet. Ich atme tief durch und versuche, zur Ruhe zu kommen. 
Plötzlich schluchzt und jammert ein Mann aus dem Nebenraum: »Nein! Bitte nicht! Nein!«
Ich bemühe mich, wieder die Kontrolle über meinen Körper zu erlangen. Mit all meinen Mut betrete ich rasch den Raum. Da ist der Alpakal! Ich sehe ihn! Er ist mit allen vier Beinen, gestrecktem Körper und dem Gewicht auf seinen Hinterbeinen vor dem Fremden. 
Mit einem viel zu langem, ausgestreckten Hals ist er auf seine Beute fokussiert. Der Umriss des Kopfes ähnelt dem eines Wolfes. Mit einem entscheidenden Unterschied: Er besitzt kein Fell, sondern zerfetzte Hautlappen. Sie sind überall an seinem Körper. Aus dem Hinterteil ranken lange Tentakel und er ist von einer violetten Flamme ummantelt.
Der Fremde ist stark verängstigt und wimmert. Auf den ersten Blick handelt es sich um den Ehepartner von Frau Barhain. Der Alpakal ist so fokussiert, dass er meine Anwesenheit nicht wahrnimmt. Seine Haut schimmert und er gibt fremde Geräusche von sich.
Violette wellenartige Wolken entstehen am Körper von Herrn Barhain. Der Alpakal saugt sie nach und nach auf. Bei jeder Absorption entfachen seine Flammen stärker. Herr Barhain leidet und windet sich vor Schmerz. Ich bin fasziniert von dem Ereignis. Nein! Ich greife ein! Herr Barhain ist in Gefahr!
Mit einem Impuls von Tapferkeit schreite ich auf den Alpakal zu und schlage auf den Hals des Untiers ein. Ich enthaupte ihn. Der Kopf sinkt mit dem nahezu kompletten Hals zu Boden. Seine Flamme erlischt. Der Rest des Körpers zuckt krampfhaft und macht Schritte vor und zurück, bis er zu Boden fällt. Ist er Tod? Das ist einfacher als erwartet. Ich atme kurz durch und Herr Barhain scheint wieder einen normalen Zustand zu erreichen.
Als ich ihn auf das Geschehene anspreche, merke ich, wie sich etwas an meinen Füßen hinauf schlängelt. Ich schaue an mir herunter und sehe dem Kopf des Alpakals direkt in die roten Augen. Unmöglich! Eine längliche Zunge schlingt sich um meinen Hals. Panisch greife ich nach dem Kopf und lasse das Schwert dabei fallen. Er ist glitschig und feucht. Es fällt mir schwer, ihn festzuhalten. 
Inzwischen hat seine Zunge sich bereits mehrfach um meinen Hals geschlungen. Mit offenem Maul und weißen, scharfen Zähnen versucht der Kopf, meine Kehle zu erreichen. Mit aller Kraft drücke ich das Maul von meinem Hals weg. Die Schlinge um meinen Hals zieht sich zu. Mein Herz pocht. Was jetzt? 
Ich kralle mich in die Haut des Kopfes. Mit einem Schrei versuche ich, den Kopf höher zu drücken. Die Schmerzen steigen. Die Halsreste des Alpakals zucken hastig hin und her.
Ich beuge mich nach vorne und probiere die Zunge verzweifelt mit dem Mund zu erreichen. Es fehlen wenige Zentimeter. Ich ziehe sie mit meiner eigenen Zunge ein Stück an mich heran und beiße mit aller Kraft zu. Es fühlt sich an, als kaue ich auf einen von Vaters Gürteln. 
Im letzten Augenblick schaffe ich es, die Schlinge zu kappen, und werfe den abscheulichen Kopf mit Wucht zu Boden. Dieser schlängelt sich schlagartig wieder in meine Richtung. Zeitgleich rammt Herr Barhain ihm mit einem kräftigen Hieb einen Dolch direkt in die Schläfe. Der Alpakal bewegt sich nicht mehr.
Die Gefahr ist gebannt und ich falle erschöpft auf die Knie. Was ist das für ein Ort? Was sind das für schreckliche Wesen? 
»Die Biester musst du immer am Kopf erwischen. Alles andere ist zwecklos«, meldet sich Herr Barhain mit schwerem Atem zu Wort. 
»Danke. Sie haben mir das Leben gerettet«, erwidere ich und entferne die restliche Zunge vom Hals.
»Ich wollte ihn aus dem Hinterhalt angreifen«, erklärt Herr Barhain, »aber diesen Angstschrei habe ich unterschätzt. Ich konnte mich vor Panik nicht mehr bewegen. Er hat angefangen, mich auszusaugen. Ich habe es gefühlt. Er war in mir! Wenn du nicht eingegriffen hättest, wäre das mein Ende gewesen. Genau genommen hast du also vorher mein Leben gerettet.«
Herr Barhain lächelt und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. 
»Wir dürfen keine Zeit verlieren! Es sind noch mehr Alpakale hier und meine Söhne sind noch auf dieser Etage!«, fügt er hinzu und richtet seinen Blick in Richtung des Korridors. »Am besten wir teilen uns auf! Ich nehme den rechten Flurbereich. Vergiss nicht, dass du diese Dinger immer am Kopf erwischen musst!«
»In Ordnung!«, antworte ich und bereite mich vor, den linken Korridor weiter zu durchsuchen.
Ich habe viele Fragen zu diesem Ort und zu den Alpakalen. Aber dafür bleibt aktuell keine Zeit. Herr Barhain ist bereits mit seinem Dolch in die Dunkelheit geeilt. 
Ich durchkämme den Korridor. Ein paar Schritte voraus ist ein weiterer Raum auf der rechten Seite. Ich lauere kurz an der Kante und betrete ihn ruckartig. Es ist niemand zu sehen. Ein Bett und einige Schränke füllen das Areal. Dann ertönt ein Poltern. Es kommt aus dem Korridor. Erneut erhasche ich ein schnelles Tapsen über den Holzboden. Ich drehe mich eilig um und verlasse das Zimmer.
Im nächsten Moment springt mich ein weiterer Alpakal von links aus der Dunkelheit an. Er reißt mich zu Boden und versucht, mit ausgestrecktem Hals und offenem Maul anzugreifen. Im letzten Augenblick halte ich mein Schwert horizontal über mir. Sein Hals ist zu kurz. Er erreicht mich nicht.
 Die Gefahr ist dennoch nicht gebannt. Der Hals verlängert sich. Wie ist das möglich? Ich reiße mit einem Ruck mein Schwert durch seinen Hals, bevor es zu spät ist. Er ist enthauptet. Ich rolle mich zur Seite und springe auf. Hastig suche ich den Holzboden nach dem Kopf ab. 
Wo ist er? Wo ist er? Da! Direkt vor mir! Ich sehe ihn! Er huscht schnell über den Boden. Er kommt immer näher und starrt mich dabei mit seinen roten Augen an. Bevor er mich erreicht, ramme ich ihm das Schwert tief in seinen Schädel, bis in das Holz hinein. Schweißgebadet halte ich den Griff fest. Ich stütze mich ab. Ist es vorbei? Nicht auszudenken, wenn einmal zwei von diesen Dingern auf mich zukommen.
Ich spüre einen leichten Schmerz an der rechten Hüfte. Die Krallen des Alpakales haben sich beim Fall tief zwischen die Rüstung gebohrt.
Ich halte kurz ein. Doch die Ruhe ist nicht von Dauer, da plötzlich ein Junge aus dem hinteren Korridor kreischt: »Verschwinde! Geh weg von mir, du Monster!«
Ich drücke meinen Fuß auf den Kopf des Alpakales, um das Schwert zu entfernen. Im Anschluss hetzte ich los. Es erwartet mich ein großer Wohnbereich mit einer Treppe. Sie führt in ein höheres Stockwerk. Oben ist ein Junge. Er wirft ein Objekt nach dem anderen dem Alpakal entgegen, um sein Voranschreiten zu unterbrechen. Der Hals dieses Alpakas ist viel kürzer. Ich vermute, dass sie den Hals beliebig vergrößern und verkleinern können. Ich schleiche mich an mein nächstes Opfer an. Doch es ertönt wieder dieser schrille Ton. Nein, nicht erneut! Ich halte mir rasch die Ohren zu, gehe auf die Knie und atme ruhig ein und aus.
Der Junge schreit auf und sinkt ebenfalls zu Boden. Ich versuche, jegliche Panik in meinem Körper zu unterdrücken. Die Muskeln verkrampfen dabei. Der Alpakal bahnt sich einen Weg zu seiner Beute.
Ich greife mir ein von oben geworfenes Objekt und schleudere es ihm entgegen. Volltreffer! Ich treffe den Alpakal am Kopf und er bricht kurzzeitig zusammen, wodurch er die Treppe hinunterfällt. Trotz des harten Schlags erhebt er sich und starrt mich mit seinen roten Augen an. Langsam verlängert sich sein Hals. Er verdreht ihn und sein Kopf dreht sich mehrfach um die eigene Achse. Mit einem Zischen streckt er seine Zunge flatternd aus. Diese Dinger sind widerlich. 
Ich nutze diesen Moment und erhebe mich. Schwertschwingend eile ich auf ihn zu. Verfehlt! Der Alpakal ist ausgewichen. Ein zweiter Versuch schlägt ebenfalls fehl. Er ist schnell. Mit jedem Hieb versucht er nach mir zu schnappen. Ich gehe einen Schritt zurück. Die Länge seines Halses scheint eine Grenze zu haben. Er nähert sich mit dem gesamten Körper. 
Ich stoppe meine Angriffe und gehe in die Verteidigung über. Der Alpakal fährt seinen Hals wieder ein und wagt einen Sprung. Mit ausgefahrenen Krallen kommt er auf mich zu und ich weiche zur linken Seite aus. Mein Rücken kollidiert mit einem Schrank. Bevor der Alpakal wieder den Boden erreicht, schnappt er mit ausgestrecktem Hals erneut nach mir. Er verfehlt mich um wenige Millimeter. Ich nutze den Moment, indem er seinen Kopf ruhig hält, um meine Schwertspitze von unten in seinen Gaumen zu schieben. Getroffen! Er sinkt mit einem schrillen Kreischen zu Boden. Erschöpft löse ich mich von dem Schrank und mustere den Körper des Alpakales. Er ist Tod! 
Ich bewege mich an ihm vorbei zur Treppe. Meine Blicke richten sich kurz zurück zum Korridor, um neue Gefahren auszuschließen. Ein weiteren Alpakal schaffe ich nicht. Ich habe zu viel Kraft verbraucht. Ich gehe die Treppe hinauf und mustere die Objekte, die der Junge dem Alpakal entgegengeworfen hat. Es sind diverse Werkzeuge, Bücher und eine Büste aus Stein. Ich erinnere mich daran, das Valan Brenshar eine solche Büste mit seinem eigenen Abbild besitzt. Auf einem der Bücher erkenne ich einen Titel: ›Galvanna – mehr als eine Vision‹. 
Oben angekommen, schaue ich mich nach dem Jungen um. Er sitzt mit den Armen verschränkt und verängstigt in einer Ecke. Der Schrei des Alpakales hat ihn hart getroffen. Ich nähere mich und falle vor ihm auf die Knie.
»Hallo Junge. Darf ich fragen, wie du heißt?«, frage ich ihn freundlich und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. 
Er hebt seinen Kopf, schaut mich tränenübergossen an und antwortet: »Geh weg! Ich bin allein. Ich bin für immer allein!«
»Da muss ich dir widersprechen, kleiner Mann«, erwidere ich und fasse ihm sanft auf die Schulter. »Ich bin schließlich hier und offenkundig beeindruckt von deiner Tapferkeit.«
Mit seinen verschieden gefärbten Augen mustert er mich und sagt: »Ich heiße Vared Barhain. Es ist überall so dunkel hier. Ich kann meinen Bruder und meine Eltern nicht finden. Sie sind bestimmt schon tot!«
»Auch in der dunkelsten Stunde gibt es Licht, wenn man nur fest daran glaubt, kleiner Mann«, muntere ich ihn auf. »Deine Eltern habe ich bereits getroffen. Als ich sie gesehen habe, ging es ihnen noch gut. Wir sollten zu ihnen gehen.«
Ich reiche Vared die Hand und helfe ihm auf. Langsam und entkräftet schreiten wir wieder die Treppe herunter. Ich lausche aufmerksam in die Dunkelheit, um neue Gefahren frühzeitig zu erkennen.
Im Korridor bewegen wir uns über den regungslosen Alpakal hinüber. Ich halte meine Hand an die Wunde. Der Schmerz ist stark aber aushaltbar.
Am Ende des Korridors erkennen wir aus der Ferne den Umriss einer kleinen Person. Es muss der Bruder von Vared und demzufolge die letzte gesuchte Person der Familie Barhain sein. Wir bewegen uns auf ihn zu. Als er durch mein Licht sichtbar ist, schaue ich ihn mir genauer an. Er hat eine emotionslose Mimik und trägt ein kleines Messer in der linken Hand. Es ist voller Blut, das langsam auf den Holzboden tropft.
»Silas, du lebst!«, ruft Vared und rennt auf ihn zu. »Wo sind Mutter und Vater? Was ist passiert?«
»Sie sind bereits unten. Ich habe gesagt, dass ich euch hole«, antwortet er direkt.
Der Junge soll uns holen? Allein? Das ist ungewöhnlich. Was, wenn die Alpakale ihn finden?
»Dein Vater lässt dich allein, obwohl diese Dinger hier rumrennen?«, frage ich erstaunt.
»Sie können mir nichts tun, weil sie mich nicht spüren können. Ich empfinde keine Angst«, erwidert er, weiterhin emotionslos.
»Mein Bruder Silas kann nichts fühlen. Weder Schmerz, Furcht oder positive Gefühle. Er hat seit seiner Geburt eine Krankheit, weißt du?«, ergänzt sein Bruder Vared.
Er fühlt nichts mehr? Wie grausam! Aber es macht Sinn. Die Alpakale lockt Angst an. Ein Mensch, der keine Gefühle hat, ist für sie unsichtbar.
»Ich habe drei oder vier von ihnen abgestochen. Sie liegen dort hinten«, sagt er und zeigt hinter sich, während er mit seinem Messer wedelt. 
Der Junge ist beängstigend. Wenn ich mir überlege, was für Schwierigkeiten ich mit diesen Wesen hatte. Wir sollten den Ort schnellstens verlassen und zu den Eltern aufschließen. Ich fordere die Brüder auf, mir zur folgen und wir treffen Herrn und Frau Barhain vor dem Haus. Beide rennen freudig zu ihren Kindern und schließen sie in die Arme. Ich schaue mich um. Es hat sich aufgehellt. Außer verschwommenen Weißtönen, ist in der Ferne aber nichts zu sehen. 
»Wie können wir euch für euren Mut und eure Tapferkeit danken, junger Mann?«, fragt mich Herr Barhain. »Wie ist überhaupt euer Name?«
»Er heißt Leon, Liebling«, antwortet seine Frau, bevor ich zu Wort komme.
»Nein, nicht Leon«, korrigiere ich. »Mein Name ist Noel. Noel Forstschlag.«
Plötzlich ist alles grell und das Sichtfeld löst sich auf. Ich höre nur meine eigenen Worte. Sie erklingen ohne Unterbrechung: »Mein Name ist Noel. Noel Forstschlag.«

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Aufbruch

»Noel. Noel Forstschlag!«, ertönt eine vertraute Stimme. 
Ich winde mich, öffne langsam meine Augen und erblicke Mutter. Sie schaut mich panisch an.
»Mutter«, erwidere ich mit einer verschlafenen Stimme.
»Noel! Endlich bist du wach. Du darfst mir doch nicht einen solchen Schrecken einjagen!«, antwortet sie erleichtert. »Du bist ganz verschwitzt. Hattest du einen Alptraum?«
Verschwitzt? Ich schaue mich im Bett um. Mutter hat recht. Das ganze Bett ist nass und mein Körper ist mit Schweiß bedeckt. Ein Alptraum? Ich versuche, mich an den Traum zu erinnern. Nichts. Jemand hat nach mir gerufen – immer und immer wieder. Das war wahrscheinlich Mutter. Mist! Was habe ich geträumt?
»Ich kann mich leider nicht erinnern«, antworte ich und verlasse das Bett, um mich anzuziehen.
Einmal habe ich mich gut an einen Traum erinnert. Stellux hat mit mir gesprochen! Das ist jetzt ein Jahr her. Er fragte damals, was ich mir am meisten wünsche. Ich antwortete ihm natürlich, dass ich mich danach sehne, die Welt außerhalb des Waldes zu sehen. Er erkundigte sich, was ich im Gegenzug dazu biete. Meine Antwort war leichtsinnig. Ich sagte, dass ich alles dafür gebe.
Mit solch Äußerungen solle ich vorsichtig sein. Stellux lehrte mich zu dieser Zeit, dass Ziele und Bestrebungen im Einklang mit einem selbst sein müssen. Sie dürfen niemals von einem Besitz ergreifen. Andernfalls suche uns die Dunkelheit heim und verderbe die Seele. Seitdem erinner ich mich immer wieder an diese Worte. Ich darf niemals auf Kosten und Leid anderer mein Ziel erreichen. 
 Natürlich sind Vater und Mutter traurig, wenn ich das Dorf verlasse. Aber ich werde zu ihnen zurückkehren und von meinen Geschichten erzählen. Ich bin mir sicher, dass sie das erfreut – zumindest Mutter. Vater würde zuerst eine langatmige Moralpredigt halten. Ich hätte Glück, dass ich bei all den Gefahren dort draußen nicht umgekommen sei. Daran bestände kein Zweifel. 
Es spricht zu viel dafür, dass die Erwachsenen uns Kindern Gravierendes vorenthalten. Ich denke nur an all die Dinge, die wir benutzen, die aber nicht aus unserem Dorf stammen. Am liebsten wäre ich mit Anna auf den Bergen, die wir immer von der Dorflichtung aus sehen. Wenn wir dort oben angekommen sind, sieht man sicherlich die ganze Welt! 
»Dein Vater möchte dich heute auf seinem Transportweg mitnehmen«, erklärt mir Mutter, als ich mit Anziehen fertig bin. »Heute Abend ist das große Dorffest. Er hat Valan versprochen, einige Waren vorab aus Istal zu holen. Dann können wir das Fest besser vorbereiten, bevor die Bewohner aus den beiden anderen Dörfern am Abend dazustoßen.«
Ich schaue meine Mutter entsetzt an und fluche: »Ein Transport bis nach Istal? Das ist mehr als die doppelte Strecke zum Holzfällerlager! Da sind wir bestimmt nicht vor heute Nachmittag zurück.«
Verärgert werfe ich meine Schlafsachen auf das Bett.
»Du bist jetzt sechzehn Jahre alt Noel. Die Arbeit ruht an keinem Tag. Jeder im Dorf trägt seinen Teil dazu bei, damit es uns allen an nichts fehlt. Du hattest heute doch sowieso nichts anderes geplant, oder?«
»Nein, du hast recht, Mutter. Ich werde ihm helfen«, antworte ich ihr nachgebend.
Ich erzähle ihr nicht von meinen Plänen. Natürlich habe ich etwas anderes geplant. Torwald sitzt im Verlies fest und Anna tüftelt längst an einem Befreiungsversuch. Am besten gehe ich dem Wunsch meiner Eltern nach und versuche, im Anschluss Anna zu erreichen, um Torwald zu befreien. Wenn ich mich jetzt gegen meine Eltern stelle, hätte das zur Folge, dass ich eingesperrt werde. Schließlich ist Vater wegen der Aktion gestern Abend nach wie vor wütend auf mich. 
In der Küche erwartet mich Vater bereits in voller Montur und schaut mit strahlenden Augen zu mir. 
»Bist du bereit, mein Sohn?«, fragt er mit motivierender Stimme. »Es ist ein schöner, sonniger Morgen und wir haben einen wichtigen Transport für die Dorfgemeinschaft zu erledigen.«
Es ist ihm anzusehen, dass er seinen Ärger des gestrigen Abends unterdrückt. Ich vermute, dass Mutter gestern ausführlich mit ihm gesprochen hat. Sie hat ihn gut im Griff. Vater setzt viel Wert auf Harmonie in der Familie. Auch wenn es manchmal nicht so scheint.
»Heute nehmen wir aber den Karren!«, fordere ich Vater auf. »Sonst sind wir erst morgen wieder da, falls ich nicht ohnehin irgendwo auf dem Weg zusammenbreche.«
Er bricht in Gelächter aus und erwidert: »In Ordnung, mein Sohn. Es wäre ohnehin zu viel zu tragen. Wir müssen auch noch eine Ladung Holz und einige Werkzeuge von Norbert nach Istal liefern. Dann sparen wir uns einen weiteren Weg und schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Das ist wahre Effizienz, mein Sohn.«
Ich nicke schweigend und bereite mich auf den Aufbruch vor. Mutter ruft mich nochmal zu sich: »Noel, mein Lieber. Kannst du bitte noch diesen Brief zu Frau Weizenacker bringen? Sie wollte so gerne mal das Rezept für meine Gemüsesuppe haben. Grüße sie bitte auch schön von mir.«
»Natürlich, Mutter«, stimme ich ihrem Auftrag zu.
Die Familie Weizenacker ist die bekannteste Familie in Istal. Sie haben eine riesige Farm. Dort bauen sie unterschiedlichste Gemüse- und Obstsorten an – und Weizen. Damit versorgen sie im Anschluss die komplette Dorfgemeinschaft mit Nahrung, genauso, wie unsere Familie alle mit Holz versorgt. Jeder hat im Dorf seine persönliche Aufgabe. Meine Mutter sagte es mir bereits beim Aufstehen.
Ich gehe zusammen mit Vater zum Lager neben unserem Haus und wir laden das notwendige Holz auf den Transportkarren. Nach und nach beladen wir ihn, so dass er bis zum Rand voll ist. 
»Das sollte genug sein«, signalisiert mir Vater. »Wir müssen noch auf das Werkzeug warten. Norbert ist sicherlich gleich hier. « 
»Viel mehr passt auch nicht rein«, werfe ich ein. »Ich bezweifle sogar, dass dort überhaupt noch Platz für Werkzeug ist. «
Vater lächelt und sagt: »Das Werkzeug ist nur ein Sack. Der passt noch hinein!«
Während ich den Optimismus von Vater genauer am Karren überprüfe, ertönt eine Stimme: »Einmal ein Sack frische Werkzeuge, wie bestellt.«
Es ist Anna! Ich drehe mich zu ihr um und schaue in ihr lächelndes Gesicht. Hinter ihr ist Hannelore, ihre treue Begleiterin, zu sehen. Anna trägt auch heute wieder eines ihrer Kleider. Dieses hier ist einfarbig in einem hellen Grün. Sie stolziert auf den Karren zu und wirft den Sack hinein. Das hat tatsächlich noch gepasst.
»Bitte sehr, die Herren«, sagt sie und verbeugt sich scherzhaft vor uns. »Damit die Ware auch am Zielort ankommt, werde ich euch natürlich begleiten.«
»Das kommt gar nicht in Frage!«, blockt Vater direkt mit einem passenden Handzeichen ab. »Transportarbeiten sind etwas für Männer. Du bist auch gar nicht dafür gekleidet, um den Wald zu durchqueren. Schon gar nicht mit diesem Federvieh!«
»Oh doch, Herr Forstschlag«, kontert sie und hebt ihren Zeigefinger lächelnd neben ihren Kopf. »Spezialauftrag von Herrn Brenshar höchstpersönlich. Ich soll ihm einen schönen Blumenstrauß aus Istal besorgen, damit wir am heutigen Dorffest den Verstorbenen gedenken können. Wenn das ein Problem ist, sollten sie das mit ihm besprechen.«
Sie pausiert ihre Ansprache einen kurzen Moment, neigt ihren Kopf zur Seite und stellt Vater provozierend eine Frage: »Ist es ein Problem?«
Meinem Vater ist anzusehen, dass ihm diese Sache missfällt. Aber Anna hat ihn genau an dem Punkt erwischt, an dem ihm keine Wahl bleibt: Eine Bitte von Valan Brenshar höchstpersönlich. 
»Nein. Dann geht es natürlich in Ordnung«, nuschelt er vor sich hin. 
Ob sie das alles geplant hat? Sie muss es geplant haben. Es ist schließlich Anna Funkenblitz. Ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen.
»Na dann. Worauf warten wir noch? Hopp Hopp!«, animiert sie uns und klatscht dabei mehrfach über ihrem Kopf in die Hände.
Als sich unsere Blicke kreuzen, zwinkert sie mir freudig zu. Mein Vater sichert die Ware mit einigen Seilen und bewegt sich zum Frontgriff des Karren, mit dem wir ihn zum Zielort ziehen.
»Ich ziehe links und du rechts, mein Sohn«, fordert er mich auf. Ich folge seiner Aufforderung und der Transport beginnt.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Transport

Der Weg nach Istal ist direkt neben dem Holzfällerpfad. Wir nennen ihn den Gemeinschaftsweg. Er verbindet nicht nur Valan und Istal miteinander, sondern auch Sunas und dadurch die ganze Dorfgemeinschaft. 
Istal liegt direkt südlich von Valan und wiederum südlich davon ist Sunas. Alle Dörfer sind jeweils mit einem Fußmarsch von zwei Stunden verbunden. Wobei ich vermute, dass wir mit dem Karren knapp drei Stunden brauchen. Immerhin ist er komplett mit Holz befüllt und lässt sich nur sehr aufwändig schieben.
Es ist gut, dass Anna dabei ist. Sie ist eine willkommene Abwechslung zu Vaters Moralpredigten. In einem günstigen Moment sprechen wir dann über Torwald. Sie hat sicher schon einen Plan geschmiedet.
Nach den ersten schweren Schritten auf dem Gemeinschaftsweg schaue ich zu Anna hinüber. Sie spaziert entspannt neben uns her und schwingt mit ihren Armen herum. Hannelore ist direkt hinter ihr. Sie pickt Leckereien vom Waldweg. 
 »Dort vorne sind Unebenheiten, mein Sohn«, spricht mich Vater an. Er zeigt mit der Hand einige Schritte vor uns auf den Boden. »Davon gibt es viele auf dem Weg. Die sollten wir vermeiden. Es besteht die Gefahr, dass der Karren beschädigt wird.«
»In Ordnung«, antworte ich ihm.
»Wartet mal kurz«, unterbricht uns Anna. »Die Unebenheiten sehen irgendwie ungewöhnlich aus. Ich schaue mir das einmal an.«
Sie nähert sich ihnen und geht in die Hocke. Mit der Hand säubert sie den Boden von kleinem, losem Gestrüpp und ähnlichen Kleinteilen, die ihr sonst die Untersuchung erschweren.
»Ich glaube, das sind eine Art Fußabdrücke. Die Form würde stimmen. Es muss sich um einen Sohlengänger handeln«, stellt sie fest.
»Sohlengänger? Was ist das?«, frage ich unwissend.
Vater und ich schenken uns fragende Blicke. Sie benutzt gerne irgendwelche Fachbegriffe aus ihren Büchern.
»Sohlengänger sind Lebewesen, die sich bei der Fortbewegung mit ihrem kompletten Fuß auf dem Boden befinden. So, wie wir zum Beispiel«, erklärt sie und lächelt dabei zu uns hinüber. »Ein Gegenbeispiel sind Wölfe. Sie sind Zehengänger. Das bedeutet, die Bewegung findet nur über die Finger und Zehen statt, so dass andere Teile den Boden nicht berühren. Dadurch entstehen die typischen punktuellen Pfotenabdrücke.«
Erneut frage ich mich, wie sie sich all diese Dinge merkt. Auch mein Vater ist nach wie vor überrascht. Als ich ihn genauer betrachte, wirkt er sogar unruhig. 
Er lässt den Karrengriff los, bewegt sich zum Abdruck und spricht Anna an: »Bist du dir sicher? Das Loch ist sehr groß für ein Tier. Zeig mal her!«
Mein Vater kniet sich neben Anna hin.
»Tatsächlich«, bestätigt er und schaut sich weiter in der Umgebung um. 
Er sichtet abseits des Weges einen umgefallenen Baum und geht dort erneut in die Knie.
»Hier ist noch ein Abdruck«, ruft er.
Anna eilt, dicht gefolgt von Hannelore, zur zweiten Stelle.
»Was war das bloß? Ob es auch den Baum umgeworfen hat? Es muss riesig gewesen sein. Ich meine, schaut euch die Abdrücke an«, fügt sie an und beobachtet den weiteren Waldboden. »Seht! Hier ist noch etwas! Ein schwarzes Pulver.«
Anna hebt es auf und riecht anschließend daran. Im nächsten Moment hustet sie stark.
»Puh! Das riecht verbrannt. Ich glaube, das ist Ruß!«, sagt sie und schaut sich um. »Komisch. Es wirkt nicht so, als hätte es hier gebrannt. Die Pflanzen und Bäume hätten doch Feuer gefangen.«
»Nicht, wenn häuptsächlich die Luft gebrannt hat«, ergreift Vater das Wort.
»Die Luft?«, fragt Anna und schaut meinen Vater verdutzt an. »Aber Luft kann doch gar nicht brennen? Das macht keinen Sinn. Dann entzündet sie sich doch bei jedem Lagerfeuer?«
»Kein Lagerfeuer«, mein Vater schaut verträumt in die Schneise, die das fremde Tier im Wald hinterlassen hat. »Ein Ignaeria.«
Anna und ich schauen uns fragend an.
»Also kennst du das Tier? Was ist ein Ignaeria, Vater?«, frage ich ihn.
»Was?«, antwortet er verblüfft. Nach einem kurzen Schweigemoment schüttelt er mit dem Kopf. »Nein, ich kenne es nicht. Ich habe nur vor mich hingeredet. Vergesst, was ich gesagt habe. Wir müssen weiter! Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
Er bewegt sich wieder zum Karren und ergreift den Griff.
»Es geht weiter, mein Sohn. Los!«, fordert er mich auf und macht dabei eine Geste mit seiner Hand.
Dass er der Frage ausweicht, ist wieder typisch für ihn. Anna eilt vor den Karren, erhebt ihre flache Hand, um uns ein ›Stop!‹ zu signalisieren, und ergreift das Wort: »Nicht so schnell, Herr Forstschlag! Jetzt müssen sie schon mehr erzählen, wenn sie sich so verplappern! Was ist ein Ignaeria? Ist es überhaupt ein Tier? Oder ist es ein Monster, so wie die großen Meeresungeheuer, die im Wasser leben?«
»Anna, bitte, wir sind in Eile und haben einige Aufträge zu erledigen. Ich habe schon mehr als genug erzählt. Ich werde den Vorfall mit Valan und den anderen bei unserer Rückkehr besprechen. Ihr müsst euch keine Sorgen machen«, wimmelt er Anna weiterhin ab und bringt den Karren mit einem ordentlichen Ruck in Bewegung. 
Anna weicht zur Seite und hebt ihren Zeigefinger in die Luft, um ihre Gedanken weiterzuführen: »Wenn sie es mir nicht sagen, mache ich mir eben selbst ein Bild.«
Es ist wieder soweit. Anna ist in ihrem Element. Mein Vater gibt einen Seufzer von sich.
»Es handelt sich allem Anschein nach um ein großes Wesen, das Luft verbrennt. Das ›Wie?‹ ist aufgrund der Sturheit der Erwachsenen noch ungeklärt. Auch das ›Wo?‹ ist nicht bekannt. Schließlich wissen wir nicht, wo es sich gerade befindet. Ob es wohl im Wald lebt? Wir könnten die Spuren zu gegebener Zeit verfolgen!«, grübelt Anna vor sich hin.
»Das werdet ihr ganz bestimmt nicht machen. Ihr habt mit eurer ewigen Neugier gestern schon genug Ärger gemacht«, grummelt Vater erbost. »Das ist alles kein Spiel. Die Welt dort draußen ist gefährlicher, als ihr glaubt. In die Kategorie ›sehr gefährlich, bis tödlich‹ könnt ihr den Ignaeria einordnen!«
»Oh! Es handelt sich also um einen Fleischfresser?«, wirft Anna erstaunt ein. 
»Ist das Dorf dann nicht in Gefahr? Wir sollten schnell alle warnen und mehr Wachen aufstellen!«, füge ich besorgt hinzu.
»Lasst das bitte mein Problem sein. Macht euch keine Sorgen. Hier im Wald waren wir immer sicher und werden es auch immer sein. Konzentriert euch einfach auf unseren Transportauftrag!«, versucht Vater das Gespräch zu beenden. 
Es ist ihm anzusehen, dass er gerne den Rest des Weges mehr Ruhe hätte. Ein Blick zu Anna zeigt mir, dass ihr der Ignaeria keine Ruhe lässt. Sie wirkt in Gedanken versunken.
Ein Ignaeria. Auch ich grübele vor mich hin. Währenddessen ziehen wir den vollbeladenen Karren weiter auf dem Gemeinschaftsweg. Es ist beängstigend, dass so ein großes Wesen durch den Wald wandert. Ob Torwald, als unser Jäger, dieses Wesen kennt? Kann er uns vor ihm beschützen? Er hat uns auch vor der Wolfsplage beschützt. Aber er ist von Valan auf unbestimmte Zeit in das Verlies verbannt worden. Wie soll er uns da helfen, wenn uns dieser Ignaeria überfällt? Für mich ist das nur ein weiterer Grund, Torwald zeitnah zu befreien. Anna sieht das sicherlich genauso!
Die nächste Zeit des Transports verläuft ruhig. Vater genießt es und Anna ist tief in ihren Gedanken. Immer wieder bleibt sie kurz stehen und schaut sich Pflanzen am Wegesrand an. Am liebsten würde ich mir die unterschiedlichen Arten mit ihr genauer ansehen, wie gestern auf dem Valan-Pfad. Aber Vater wäre verärgert, wenn wir dafür anhalten. Er versteht dieses Interesse für die Umgebung nicht.
Nach einiger Zeit kommen wir endlich zum Stillstand und Vater sagt: »Wir machen eine kurze Pause. Jeder kann einen Schluck trinken und in die Büsche, falls notwendig. Ein zweites Mal werden wir nicht anhalten, bevor wir in Istal sind. Ich denke, es ist auch nicht mehr so weit. Vielleicht noch eine knappe Stunde, dann sind wir da.«
Vater holt einige Trinkbeutel aus seiner Tragetasche und bietet sie uns an. Sie sind aus Leder. Ich nutze die Pause und trinke einen kräftigen Schluck. Das Ziehen ist wirklich anstrengend. Dennoch nicht so schlimm, wie gestern, als wir das Holz auf unseren Rücken geschnallt hatten. 
»Ich gehe schnell einmal in den Wald, um mich zu entleeren«, fügt Vater hinzu. »Ihr rührt euch bitte solange nicht vom Fleck, in Ordnung? Ich verlasse mich auf dich, mein Sohn!«
Ich stimme zu und er verschwindet langsam hinter den Büschen und Bäumen im Wald.
»Dein Vater kann echt anstrengend sein!«, seufzt Anna und rollt dabei mit ihren Augen. »Wie hältst du das bloß den ganzen Tag mit ihm aus?«
»Ich finde, du hast ihn ganz gut im Griff«, lobe ich sie und fange an zu grinsen. »Da kann ich mir noch einiges abschauen!«
Anna kichert und sagt: »Naja, ich gebe mein Bestes. Er ist wirklich ein grummeliger Sturkopf.«
»Ich hoffe, wir sind hier bald fertig! Wir müssen unbedingt zu Torwald und ihn aus dem Verlies herausholen! Wir waren so kurz davor, unser Ziel zu erreichen!«, lenke ich ab.
»Ja! Vor allem ist es ganz ungewöhnlich, dass er in das Verlies gesteckt wurde!«, flüstert sie aufgeregt und schaut sich dabei um, ob Vater zurück ist. »Ich habe gestern noch ein Gespräch zwischen Valan und meinem Vater mitbekommen. Angeblich ist Torwald ein Galvanna-Spion! Das hat jedenfalls Valan erzählt.«
»Ein Galvanna-Spion?! Was soll das sein?«, frage ich erstaunt.
»Tja, wenn ich dass nur wüsste«, antwortet sie und streift durch ihr schönes rotes Haar. »Ein Spion ist jemand, der heimlich Informationen beschafft. Habe ich extra noch einmal in einem meiner Bücher nachgelesen! Aber den Begriff Galvanna konnte ich nirgendwo finden.«
Galvanna. Tief im Inneren kommt mir dieser Begriff bekannt vor, aber ich kann ihn nicht zuordnen.
»Vielleicht ist es auch ein Dorf?«, schlage ich vor. »Oder es hat etwas mit Nika, dieser Dryade, zu tun?«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, erwidert sie. »Aber es macht irgendwie alles nicht so richtig Sinn in meinem Kopf. Wir müssen unbedingt Torwald damit konfrontieren. Ich habe schon einen Plan!«
Bevor sie mir den Plan erzählt, raschelt es im Gebüsch und Vater erscheint. 
»Erzähl ich dir später«, flüstert sie mir zu und entfernt sich wieder von mir.
»Seid ihr bereit?«, fragt mein Vater mit breitem Grinsen, als hätte er gerade etwas Großartiges erlebt, und freue sich darauf, den Karren zu ziehen. »Es geht weiter. Wir sind fast da!«
Er packt die Trinkbeutel wieder in seine Tasche und hängt sie sich um. Anschließend ergreift er erneut den Karrengriff und fordert mich auf, zu ziehen. 
Beeindruckend, dass Anna schon einen Plan ausgeheckt hat. Wie er wohl lautet? Es sind viele offene Fragen in meinem Kopf. Das Erlebnis mit der Dryade Nika, die viel zu hohe Bestrafung für Torwald und die Tatsache, dass er ein Galvanna-Spion ist. Was hat es damit auf sich? Dann ist da noch dieses Wesen, der Ignaeria, der sich hier im Wald rumtreibt. Etwas sagt mir, dass all diese Dinge miteinander zusammenhängen. Nur wie?

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Istal

Wir haben Istal erreicht. Mit einem befreienden Ruck lasse ich den Karrengriff los und jubele: »Endlich sind wir da!«
»Freu dich nicht zu früh, mein Sohn!«, mahnt mich Vater. »Das Holz muss abgeladen werden und nach einer kurzen Pause geht es direkt weiter mit dem Aufladen der Materialien für das Dorffest.«
»Da wünsche ich euch viel Spaß!«, wirft Anna kichernd ein. »Hannelore und ich sammeln jetzt für Valan ein paar Blumen vom Feld.«
Ich schaue ihr mit neidischem Blick nach und wende mich dem Holz zu. Es wartet bereits darauf, dass ich es ablade. Stück für Stück trage ich es zusammen mit meinem Vater vom Karren und lege es auf den Lieferplatz von Istal ab. Er ist die Sammelstelle für den Austausch von Waren zwischen den einzelnen Dörfern.
»Lars!«, ertönt es hinter uns. »Schön, dich zu sehen! Noel ist auch dabei! Bist du etwa schon wieder gewachsen? Du bist ja schon fast so groß, wie dein alter Herr.«
Es ist Wolfgang Weizenacker. Der Ehemann von Wilhelmine Weizenacker. Das erinnert mich daran, dass ich Wilhelmine noch das Rezept von Mutter übergeben muss. Das mache ich am besten, wenn wir mit dem Abladen fertig sind. 
»Wolfgang!«, grüßt mein Vater zurück und sie schütteln sich mit einem kräftigen Handschlag die Hände. »Wie verläuft die Ernte? Ist alles vorbereitet für das Fest?«
»Die Säcke mit der Ernte liegen bereits dort vorne. Es sind auch zwei volle Säcke Bucklbrot und frisches Bucklfleisch dabei«, antwortet Wolfgang.
Sie sind riesig und bis oben hin vollgestopft. Meine Hoffnungen auf einen angenehmeren Rückweg sind dahin. Das Bucklbrot und Bucklfleisch kommt aus Sunas, dem dritten Dorf. Die Herstellung ist sonderbar. 
Buckl sind menschengroße, dicke, vierbeinige Tiere mit einem Höcker auf dem Rücken. Sie züchten sie auf der Weide. Ihr Fleisch schmeckt sehr gut, aber das Beste an ihnen ist der Kot. Ich weiß, das klingt ekelhaft. Wenn man einen ausgewachsenen Buckl mit Weizen füttert, kommt ein nährstoffreicher, duftloser Kot heraus, aus dem das Brot gebacken wird. Das Bucklbrot ist eine Delikatesse!
 Anna erkläre jetzt sicher, warum er am Ende duftlos ist und was mit dem Kot passiere. Ich habe mich nicht für die Details interessiert. Das lecker schmeckende Bucklbrot ist die Hauptsache!
»Das war der Letzte, Noel!«, macht mich Vater aufmerksam und zeigt auf den leeren Karren. »Du hast jetzt einen Moment Pause. Ich werde mit Wolfgang das Werkzeug in die Werkstatt bringen. Willst du mitkommen?«
»Ich muss noch das Rezept zu Frau Weizenacker bringen«, erkläre ich Vater.
»Oh, du hast recht, mein Sohn!«, antwortet er. »Das hätte ich fast vergessen. Dann kümmere dich erst einmal darum.«
»Da freut sich meine Frau bestimmt!«, wirft Wolfgang ein. »Wilhelmine ist mit Willy und Winfried auf den Feldern.«
Willy und Winfried sind die Kinder der Familie Weizenacker – zwei sehr anstrengende Banausen. Sie sind sieben und neun Jahre alt und immer am Streiten und Raufen. Ich bedanke mich für den Hinweis und eile zu den Feldern. 
Nach einer kurzen Wanderung erreiche ich mein Ziel im Westen. Die Felder erstrecken sich über eine Fläche, die so groß ist, wie das Dorf selbst. Hinter ihnen ist ein steiler Abgrund, von dem man das ganze Meer erblickt. 
In der Ferne sehe ich bereits Frau Weizenacker auf einem der Felder. Auch Anna ist auf der Blumenwiese weiter südlich. Sie sucht schöne Blumen für die Gräber der Verstorbenen. 
Mit schnellen Schritten bewege ich mich auf Wilhelmine zu. 
Aus der Entfernung höre ich sie fluchen: »Willy! Winfried! Hört gefälligst auf, euch mit der Zucchini zu bekämpfen! Die wollen wir noch essen!«
Mit lautem Kampfgebrüll rennen sie durch das Beet. Als hätten sie frisch geschmiedete Schwerter von Norbert in der Hand.
»Hallo, Frau Weizenacker! Wie geht es ihnen?«, frage ich sie höflich.
»Oh, Noel!«, antwortet sie überrascht und dreht sich zu mir. »Du bist also auch hier. Anna habe ich gerade schon getroffen.«
»Ein Räuber! Ein Räuber!«, rufen Willy und Winfried gemeinsam und stürmen, mit ihren Zucchini bewaffnet, auf mich zu. 
Während ich mit der rechten Hand die nicht sonderlich schmerzhaften Angriffe blocke, führe ich das Gespräch mit Frau Weizenacker fort: »Ich bringe ihnen das Rezept für die Gemüsesuppe von meiner Mutter. Hier! Bitte sehr!«
Ich reiche ihr das gefaltete Papier und sie nimmt es freudig entgegen.
»Das ist wunderbar! Ich danke dir, Noel!«, erwidert sie glücklich. »Schaut mal Kinder, jetzt können wir noch schönere Dinge aus den Zucchinis machen! Also legt sie, verdammt nochmal, endlich in den Korb!«
Ihre Laune ändert sich schlagartig. Ohne Widerworte folgen Willy und Winfried der Aufforderung ihrer Mutter. Sie hat sie im Griff.
»Entschuldige das Verhalten meiner Kinder«, führt Wilhelmine das Gespräch fort, »Sie wissen sich einfach nicht zu benehmen. Anna ist auf der Blumenwiese, wenn du zu ihr möchtest. Sie wirkte etwas bedrückt und in Gedanken versunken, als ich gerade mit ihr gesprochen habe. Vielleicht kannst du sie ein wenig aufheitern?«
Anna wirkte bedrückt? Ich blicke auf das Blumenfeld. Anna kniet zusammen mit Hannelore vor einigen lila Blumen und ... weint sie? 
»Ich werde zu ihr gehen und nachsehen«, antworte ich Wilhelmine und mache mich auf den Weg.
Ich habe Anna lange Zeit nicht mehr in Tränen gesehen. Woher kommt die plötzliche Traurigkeit? Sie war doch eben noch sehr gut gelaunt? Vielleicht irre ich mich auch. Aus der Entfernung ist es schließlich schwer zu erkennen. 
Und wenn es doch so ist? Wie verhalte ich mich am besten? Früher, als wir jünger waren, habe ich sie in solchen Momenten umarmt. Jedoch ist sie seit kurzem bei Berührungen abweisender. Ich rufe sie besser vorher aus der Entfernung, so dass sie sich nicht überrascht und ertappt fühlt: »Anna! Hast du schon die richtigen Blumen gefunden?«
Sie zuckt kurz zusammen, wischt durch ihre Augen und dreht sich zu mir. 
»Was machst du denn hier?«, antwortet sie entsetzt und grinst. »Hast wohl Angst, dass dein Vater dir mehr Arbeit aufhalst?«
»Ich musste noch ein Rezept von Mutter zu Frau Weizenacker bringen«, erkläre ich mich und mustere dabei ihr Gesicht. Sie wirkt normal. Aber bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass ihre Augen gerötet und glasig sind. 
»Ist alles in Ordnung bei dir? Du wirkst etwas bedrückt«, frage ich sicherheitshalber nach.
Erstaunt hält sie kurz inne und schaut wieder in Richtung der lila Blumen. 
»Du siehst auch alles, oder?«, sagt sie kichernd. »Ein wahrer Entdecker.«
Sie kniet sich auf den Boden, pflückt einige der Blumen und erzählt weiter: »Ich war kurz traurig. Früher war ich mit meiner Mutter oft auf diesem Feld. Sie hat mir all die unterschiedlichen Blumen gezeigt und erklärt. Nur diese hier konnte sie mir nicht erklären. Sie wusste selbst nicht, wie sie heißen. Es gibt keine Schriften zu ihnen in unseren Büchern. Mutter sagte mir, sie hätte diese Blumensamen von einem Freund. Sie verstreute die Samen hier auf dieser Wiese. Diese Blumen seien die Schönsten, die sie je auf der Welt gesehen habe. Sie steckte mir häufig eine der Blumen ins Haar und sagte: »Eines Tages, wenn du ausgewachsen bist, wirst auch du so wunderschön wie diese Blume sein.« Immer, wenn ich hier bin, vermisse ich sie sehr. Es ist, als sei sie wieder bei mir, weißt du? Was würde ich dafür geben, dass sie mir noch einmal eine dieser Blumen ins Haar steckt.«
Einige Tränen schleichen sich über ihre Wangen. Ich setze mich zu ihr und greife nach einer der Blumen in ihrer Hand. 
Sie dreht sich zu mir und fragt: »Was hast du vor?«
Während sie mich mit ihren verweinten Wangen ansieht, stecke ich die Blume in ihr glänzend rotes Haar.
»Ich bin zwar nicht deine Mutter«, antworte ich ihr, »aber sie hat Recht. Du hast die Blume mehr als verdient.«
Ich lächele sie an. Mein Herz schlägt unglaublich schnell. Sie ist wirklich die Schönste auf dieser Welt. Für einen kurzen Moment herrscht vollkommene Stille und wir schauen uns nur an. Es ist, als stehe die Zeit still.
»Ich ...«, bricht Anna die Ruhe und schaut zur Seite. Sie errötet. »Danke«
Erneut schaut sie auf die Blumen und legt die Restlichen zum Strauß. 
»Ich werde sie Luisinen nennen! Was hälst du davon?«, fragt sie, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischt.
»Ich denke, das ist eine wunderbare Idee. Ich bin mir sicher deine Mutter freut sich gerade sehr darüber«, antworte ich und starre dabei in den klaren, wolkenfreien Himmel.
Anna lächelt. Sie schaut ebenfalls hinauf und ergänzt: »Das hoffe ich. Das hoffe ich ...«
Die Stille kehrt zurück. Ich würde gerne ihre Hand greifen. Ihr sagen, was sie mir bedeutet - aber ich kann nicht. Ich muss mir erst sicher sein, dass es ihr genauso ergeht. Mit diesen Gefühlen bringe ich sonst unnötig unsere Freundschaft in Gefahr.
»Oh nein!«, schreckt Anna auf und schaut auf eine der Luisinen. »Da ist ein kleiner schleimiger Venuxir im Beet. Er wird die Blumen zerstören. Wir müssen ihn schnell einfangen.«
Anna geht auf das wurmartige Tierchen zu. Es sitzt auf einer der Blüten.
»Ein Venuxir?«, werfe ich fragend ein. »Warum sollte er die Blumen zerstören? Frisst der Wurm sie etwa?«
Anna seufzt lautstark vor sich hin und sagt genervt: »Noel du musst unbedingt mehr lesen. Waldinstekten Band 1, Seite 43: Der zweischneidige Wurm Venuxir. Kein Wurm ist so gefährlich und zugleich nützlich für das Pflanzenreich, wie er. Während er sich mit wurmtypischen Ring- und Längsmuskel fortbewegt, scheidet er eine warme, gasförmige Substanz aus, um seinen Körper vor der Überhitzung zu schützen. Die Substanz geht anschließend aufgrund der geringeren Außentemperatur, in einen festeren, sekretartigen Zustand über. Dieses sogenannte Venuxsekret ist hochgiftig für die Pflanzenwelt und kann sehr wahrscheinlich zum Tod der Pflanze führen. Verstehst du es jetzt?«
»Oh, das klingt grauenvoll«, sage ich erstaunt. »Aber warum soll der Wurm dann nützlich für die Pflanzen sein?«
»Denk doch mal nach Noel. Wenn man das Venuxsekret einsammelt und richtig einsetzt, kann man damit gezielt Unkraut bekämpfen und die Pflanzen, die man züchten möchte, haben mehr Möglichkeiten sich frei zu entfalten«, erklärt Anna und holt einen glasförmigen Behälter aus ihrem Beutel hervor. »Lass uns den Venuxir einfangen! Wir benutzen ihn, um das Unkraut von den Gräbern im Dorf zu entfernen. Bis wir zu Hause sind hat er bestimmt schon eine Menge Sekret erzeugt.«
Sie greift nach dem Wurm, der bereits eine Schleimspur hinter sich herzieht und packt ihn in den Behälter. Im nächsten Moment sinkt die lila leuchtende Luisine in sich zusammen. Die Blume ist jetzt pechschwarz.
»Oh! Das ging wirklich schnell!«, sage ich überrascht, während ich die Entdeckung in das Tagebuch eintrage. 
Der Venuxir. Ein beeindruckendes Tierchen. Er hat große Auswirkungen auf die Pflanzenwelt.
Anna greift sich den gesammelten Blumenstrauß. Sie sieht schon wieder fröhlicher aus. Für einen kurzen Moment kreuzen sich erneut unsere Blicke. Die Blume in ihrem Haar ist wunderschön. Reiß dich zusammen Noel! Diese Gefühle sind jetzt nicht angebracht. 
»Anna! Noel!«, schallt es aus dem Dorf. Es ist Vater. Er winkt uns zu und ruft: »Seid ihr fertig? Wir wollen weiter! Wir haben heute noch viel zu tun.«
Anna grüßt zurück und antwortet: »Wir kommen, Herr Forstschlag! Wir kommen! Keine Panik!«
Sie fordert mich auf, ihr zu folgen. Ein letztes Mal schaue ich auf den Horizont hinaus und genieße den Ausblick auf das Meer. Wir verlassen gemeinsam mit Hannelore das Blumenbeet. Ich freue mich schon nicht darauf, den Wagen wieder bis nach Valan zu transportieren. 
»Wenn wir zurück sind«, spreche ich Anna an, »kümmern wir uns dann um Torwald?«
»Sicher!«, antwortet sie lächelnd. »Schließlich wollen wir endlich das Ende des Waldes sehen. Oder nicht?«
»Ja, na klar! Aber ich befürchte mein Vater wird mich nicht so einfach raus lassen. Ich soll sicher mit ihm das Dorffest vorbereiten«, antworte ich.
»Und genau das ist unsere Chance!«, erklärt Anna. »Alle werden abgelenkt sein. Ich habe schon eine Idee, wie ich deinen Vater überzeugen kann. Lass das mal meine Sorge sein. Jetzt geht es erstmal wieder zurück. Ich hoffe du bist fit genug den Karren zu ziehen?«
Die Schadenfreude in ihrer Frage ist dabei unüberhörbar. 
»Ha ... Ha ... Ha«, reagiere ich gefrustet. »Ich befürchte, er ist sogar noch schwerer, als auf dem Hinweg.«
Der Rückweg steht an. Wenn wir es schaffen, Torwald zu befreien, führt er uns endlich aus dem Wald. Wir sehen letztlich doch noch, was die Erwachsenen vor uns verbergen. Ich spüre, wie meine Aufregung mit jedem weiteren Gedanken zunimmt. Heute ist der Tag, auf den ich schon immer gewartet habe!

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Befreiung

Es ist jetzt Nachmittag und wir sind aus Istal zurückgekehrt. Ich hatte recht. Der Rückweg war anstrengender. Vater hat die ganze Zeit über seine Vorbereitungen geredet und mich mit diversen Dorfregeln belehrt. Ich hatte Mühe und Not, den Wagen durchgehend in Bewegung zu halten.
Anna und Hannelore haben uns singend begleitet. Es klang sehr harmonisch und übertönte, zu meinem Glück, die Lehrstunde von Vater.
Gerade räume ich zusammen mit ihm die Säcke in den Lagerraum des Wirtshauses in Valan. 
»Das waren die Letzten, mein Sohn«, sagt Vater. »Da haben wir hervorragende Arbeit für die Dorfgemeinschaft geleistet.«
»Meine Gebete wurden letzten Endes doch erhört«, antworte ich erleichtert.
»Stell dich nicht an. So anstrengend war es nun auch nicht. Außerdem habe ich mit dir noch ein paar andere Sachen vor. Wir müssen die Garnitur für das Dorffest aufstellen. Anschließend können wir im Wirtshaus mithelfen, bis die Feier beginnt. Schließlich ist es nicht mehr so lange hin«, zählt Vater freudig auf.
»Halt, Halt, Halt! Ich fürchte, da muss ich widersprechen, Herr Forstschlag!«, unterbricht Anna die verbale Folter. »Ich muss mir Noel leider ausleihen. Ich brauche ihn für die Zeit vor dem Dorffest. Der Strauß für meine Mutter und die anderen Verstorbenen ist noch nicht fertig. Die zugehörigen Materialen befinden sich am Rand des Dorfes. Und da wollen sie mich doch nicht alleine suchen lassen? Bei den ganzen Wölfen und Ignaeria heutzutage?«
»Noel soll also deinen Beschützer spielen? Wie genau soll er das anstellen?«, fragt Vater gehässig.
»Kann er nicht?«, fragt Anna. »Das wundert mich. Ich dachte, er sei ein »wahrer« Forstschlag. Wer ist also besser dazu geeignet?«
Anna ist faszinierend. Das ist ein weiterer Punkt für sie.
Vater räuspert sich, schaut kurzzeitig zu mir rüber und sagt: »Natürlich ist er das! Er ist schließlich mein Sohn!«
Er kommt auf mich zu und zieht ein Messer samt Halterung aus seinem Gürtel. 
»Hier, mein Sohn! Nimm dieses Messer für den Notfall. Norbert hat es gestern erst neu für mich geschliffen. Sei also bitte vorsichtig und denke an alles, was ich dich gelehrt habe«, führt er fort. 
»Ähm, ok«, bestätige ich überrascht und binde mir das Messer an meinen Gürtel.
»Und ich bitte euch! Geht nicht in den Wald oder treibt sonst irgendeinen Unsinn! Ich will euch pünktlich zum Fest auf dem Dorfplatz sehen! Verstanden?«, fügt er grummelig hinzu.
»Natürlich, Herr Forstschlag! Sowas würden wir nie tun!«, bestätigt Anna. »Außer gestern.«
Sie rollt mit den Augen, hebt ihre Augenbrauen und lächelt zu mir hinüber.
»Ich meine es ernst!«, ergänzt Vater. 
Ich bin froh, dass Anna das Gespräch geführt hat. Wenn man bedenkt, was wir gleich vorhaben, hätte ich Vater nicht ohne Probleme angelogen. Ich habe von der gestrigen Lüge noch ein schlechtes Gewissen.
Im nächsten Augenblick ziehen Anna, Hannelore und ich los, bis Vater uns nicht mehr sieht und hört. 
»Siehst du«, sagt sie und zwinkert mir dabei zu, »war doch gar kein Problem.«
»Kommen dir diese Einfälle eigentlich immer spontan oder planst du das?«, frage ich erstaunt.
Sie zuckt mit ihren Achseln und antwortet: »Teils, teils, tut mir leid, das zu sagen, aber dein Vater ist auch wirklich nicht der hellste Stern am Himmel.«
Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Da hat sie recht. Selbst ich zweifle daran, dass er Valan irgendwann als Dorfoberhaupt ersetzt. Dafür wird er zu leicht wütend und verliert die Kontrolle. Das ist nicht unbedingt gut für einen Anführer. Dafür ist er aber sehr stark und hat andere Fähigkeiten. 
»Also dann! Wie machen wir es?«, wechsel ich das Thema. »Meinst du Valan selbst hat den Schlüssel für das Verlies?«
»Ich befürchte es!«, antwortet Anna etwas besorgt. »Er mag alt sein, ist aber noch lange nicht so einfach zu überlisten wie dein Vater. Wir sollten zuerst Torwald zur Rede stellen. Ich will wissen, was es mit dem Galvanna-Spion auf sich hat!«
»Meinst du, wir kommen einfach in das Verlies hinein? Was, wenn er eine Wache aufgestellt hat?«, werfe ich bedenkend ein.
»Das halte ich für unwahrscheinlich. Sie müssen alle das Fest vorbereiten. Schließlich muss in einigen Stunden alles bereit sein, wenn die Bewohner von Istal und Sunas dazustoßen«, erklärt Anna. »Ich lege die Blumen solange hier vorne ab.«
Wir kommen auf dem Weg zur Kirche an einer kleinen Steinkonstruktion vorbei. Dort platziert Anna die Blumen windgeschützt für später. Im Anschluss erreichen wir unseren Zielort.
»Das Verlies befindet sich am Seiteneingang der Kirche. Vater ist ab und zu mal mit mir dort hinab gegangen, um die Gitterstäbe und andere metallische Gegenstände von Rost und Dreck zu befreien«, erläutert Anna. »Ich glaube, es ist das erste Mal, dass dieses Verlies überhaupt in Verwendung ist.«
»Ich war noch nie dort unten. Ehrlich gesagt habe ich verdrängt, dass es so eine Einrichtung überhaupt in unserem Dorf gibt«, füge ich hinzu.
»Ja, es ist sowieso ungewöhnlich, dass wir so etwas gebaut haben. Ich bin mir immer sicherer, dass es noch viel mehr Menschen außerhalb des Waldes geben muss. Ich verstehe nur nicht, warum die Erwachsenen so eine Geheimnistuerei darum machen. Wir müssen Torwald unbedingt befreien und endlich aus diesem Wald raus. Ich will es mit eigenen Augen sehen«, sagt Anna zielstrebig.
Ich stimme ihr mit wortlosen Signalen zu und wir betreten die Treppe am Seiteneingang, die in das Verlies hinabführt. Die Aufregung steigt. Wie Torwald wohl reagiert, wenn er uns sieht? Was wenn er doch bewacht wird? Vielleicht ist Torwald auch gar nicht mehr hier und selbst schon geflohen? Und wie befreien wir ihn ohne den Schlüssel?
Das Verlies besteht aus einem unterirdischen Korridor. Brennende Fackeln schmücken die Wände. Es riecht abartig nach Teer und verbranntem Zeug.
Ich huste und fluche: »Das stinkt grauenvoll und ich kann kaum atmen. Wie können sie Torwald hier nur einsperren? Das ist nicht richtig!«
»Holzteer und Kohlenstoffdioxid«, erklärt Anna während sie ihre Hand mit gestrecktem Zeigefinger anhebt. »Der Holzteer wird für die Fackeln benötigt, wie du sicherlich weißt. Das Kohlenstoffdioxid ensteht durch die Vebrennung. Es gibt Luftschächte an den Seitenwänden.«
Anna zeigt auf Löcher an den Wänden. Ein Lichtschimmer des Sonnenlichts scheint hindurch.
»Ohne diese Luftschächte könnte kein Mensch hier unten überleben. Soweit ich weiß entsteht bei Verbrennung von Kohlenstoff ohne Sauerstoffzufuhr sehr giftiges Kohlenstoffmonoxid«, führt sie ihre Erläuterung fort.
»Zwei Fragen dazu«, erwidere ich ihrem Vortrag. »Gibt es etwas, dass nicht in deinen Büchern steht? Und wer, bei Stellux, hat diese ganzen Dinge aufgeschrieben. Ich wüsste niemanden im Dorf, der dazu in der Lage ist. Die Bücher wurden bestimmt auch nicht in unserem Dorf geschrieben.«
»Das sehe ich auch so! Frau Hammelblatt hat immer gesagt, es sind Überlieferungen unserer Vorfahren. Aber manche Informationen wirken viel fortschrittlicher, als das Dorf selbst. Genauso wie mit der Technik des Wasserspeichers an jedem Haus«, erklärt sie. »Eine Sache steht nebenbei nicht in meinen Büchern ... Galvanna! Was ist Galvanna!«
»Eure Neugierde ist wirklich hartnäckig«, erklingt es aus einer Ecke des Korridors. Es ist ohne Zweifel Torwald. »Wenn ihr mich befreit, erzähle ich euch vielleicht, was es mit Galvanna auf sich hat.«
Anna und ich nähern uns der zugehörigen Zelle und sehen Torwald geschwächt in einer Ecke liegen. Neben ihm liegt ein Behälter Wasser und eine halb verspeiste, mit Dreck besudelte Mahlzeit.
»Wie wäre es, wenn du es uns jetzt erzählst? Schließlich kommst du ohne unsere Hilfe hier sowieso nicht heraus«, antwortet Anna provozierend.
Torwald erhebt sich mit aller Kraft und Mühe vom Boden. Er nähert sich dem Gitter und sagt: »Wie ihr meint, aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr danach alles versucht, um mich hier aus diesem Verlies zu holen. In Ordnung?«
»Wenn es nur das ist«, Anna macht eine abwinkende Geste und rollt mit den Augen. »Dafür sind wir eh schon hergekommen.«
»Ok, ich vertraue euch, Kinder«, sagt Torwald und lehnt sich mit einer Hand an die Wand. »Mein Verhältnis zu Galvanna ist ähnlich, wie das eure zu meinem. Nika wurde vor einiger Zeit von ihnen gejagt. Sie wollten sie töten, für das was sie ist – eine Walddryade. Ich fand sie schwer verwundet und erschöpft hier im Wald. Wir sind geflohen, doch sie fanden uns und ich machte mit Ihnen einen Handel. Ich versorge sie mit den notwendigen Informationen über unser Dorf und sie lassen dafür Nika in Frieden. Mir blieb keine andere Wahl, Kinder. Ich habe sowieso nicht verstanden, warum sie so viele Details über unser Dorf wissen wollen. Doch Valan hat es bemerkt und ...«
»Warte, Warte, Warte!«, unterbreche ich die Ansprache von Torwald. »Das heißt, es gibt wirklich andere Menschen dort draußen? Galvanna ist ein weiteres Dorf?«
Torwald seufzt lautstark vor sich hin und entgegnet: »Ganz grob kann man es so sehen. Aber es ist nicht so, wie unsere Dörfer.«
»Es ist ein fortschrittlicheres Dorf, oder? Kommen die komischen Dinge aus unserem Dorf von dort?«
Torwald nickt geschwächt. Es ist ihm anzusehen, dass er an seinen Kraftreserven zehrt.
»Kinder, es ist wichtig, dass ich dringend aus dem Verlies komme. Ich befürchte, ich habe einen Fehler gemacht und das ganze Dorf ist vielleicht in Gefahr. Ihr müsst umgehend zu Nika gehen. Sie wird wissen, was zu tun ist, bitte!«
»Das Dorf ist in Gefahr?! Aber warum?«, erwidere ich entsetzt. »Durch wen? Galvanna etwa?«
Bevor Torwald auf meine Frage reagiert, hören wir Stimmen aus dem Treppenbereich. 
»Versteckt euch und verschwindet dann von hier!«, mahnt Torwald. »Findet Nika! Sie ist bei der Dagar-Höhle und den Wölfen! Sie ist die Einzige, die noch schnell genug etwas unternehmen kann.«
Anna und ich nicken und wir verstecken uns im Eingangsbereich. Wir hocken hinter einer Schale voller Holzteer, die für die Entzündung der Fackeln verwendet wird. Auch Hannelore tapst uns zielstrebig hinterher, um den Fremden zu entgehen. 
Zwei Erwachsene aus dem Dorf treten in den Korridor. Einer von beiden ergreift das Wort: »Torwald. Wie ist das Verräterleben so? Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Valan hat mir die Erlaubnis gegeben, morgen höchstpersönlich nach deiner kleinen Dryadenfreundin zu suchen. Es wird mir eine Freude sein, sie ein wenig zu stutzen.«
Es folgt ein finsteres Lachen. Im nächsten Moment klopft mir Anna auf die Schulter. Sie hat Hannelore auf dem Arm. Sie signalisiert ein ›jetzt‹ und schleicht die Treppe hinauf. Ich versuche aufzuschließen. Schritt für Schritt schleichen wir nach oben. Geschafft! Wir sind draußen.
»Bei Stellux, warum kommen wir in letzter Zeit immer in so brenzlige Situationen?«, frage ich außer Atem.
»Wer viel erreichen will, muss viel riskieren«, antwortet Anna. »Steht auch in einem meiner Bücher.«
»Was auch sonst«, füge ich hinzu.
Sie grinst, lässt sich mit Hannelore auf das Gras fallen und sagt: »Galvanna, es stimmt also wirklich. Es gibt Menschen außerhalb des Dorfes. Dazu kommt, dass sie fortschrittlicher sind als wir! Ich muss sie unbedingt kennenlernen.«
»Ähm, dir ist bewusst, was Torwald gerade über Galvanna gesagt hat?«, frage ich kritisch nach. »Sie sind gefährlich. Eine Gefahr für unser Dorf!«
»Ja, ich weiß schon! Aber wieso nur? Warum gehören sie nicht zur Gemeinschaft, wie Sunas und Istal? Warum wollen sie Informationen über uns? Es ist zum verrückt werden. Jede neue Antwort wirft zwei neue Fragen auf. Verdammt!«, flucht Anna. »Wir müssen unbedingt zu Nika und den Wölfen! Und das alles noch vor dem Dorffest!«
»Das stimmt«, begrüße ich ihren Plan. »Worauf warten wir dann noch?«
Anna, ich und das treue Azurosa-Weibchen bewegen uns erneut zum Valan-Pfad. Es ist Zeit für ein Wiedersehen mit der Dryade Nika und den Wölfen.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Rückkehr

Mit schnellem Schritt eilen wir über den Valan-Pfad. Hannelore ist bei Anna auf dem Arm, da sie mit unserer Geschwindigkeit sonst nicht mithält.
Dieses Mal beachten wir unsere Steinmarkierungen nicht. Dafür ist keine Zeit! Es ist schon Nachmittag und das Dorffest ist in knapp drei Stunden. Nicht auszudenken, wie wütend Vater ist, wenn wir bis dahin kein Lebenszeichen von uns geben.
»Meinst du, Nika kann uns wirklich helfen?«, frage ich Anna mit skeptischem Blick. »Schließlich wirkte sie das letzte Mal stark geschwächt.«
»Das stimmt«, bestätigt Anna meine Annahme, »aber Torwald sagte sie sei die Einzige, die ihn aus diesem dunklen, stickigen Verlies befreien kann. Valan zu überlisten, um an den Schlüssel zu kommen, funktioniert ohnehin nicht. Das schaffen wir zeitlich nicht mehr.«
Da hat sie recht. Dennoch bin ich überfragt, wie Nika uns helfen soll. Was hat sich Torwald dabei gedacht? 
Wir sind jetzt bei der Kreuzung des Valan-Pfades.
»Hier haben wir das letzte Mal Torwald getroffen«, sage ich und nutze die kurze Pause, um durchzuatmen.
»Richtig«, antwortet Anna. »Wir müssen nach links. Dort ist die Dagar-Höhle und der Bau der Wölfe!«
Anna zeigt den namenlosen Pfad entlang. Wir rennen weiter. Das letzte Mal hat mir die Erkundungstour besser gefallen. Zwischendurch erhasche ich Pflanzen und Tiere am Wegesrand. Sie sind alle einen Entdeckereintrag wert. Aber die Zeit drängt zu sehr. Das ganze Dorf ist vermutlich in Gefahr!
»Ich mache mir wirklich Sorgen! Was, wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen und der Dorfgemeinschaft etwas Schreckliches zustößt? Schließlich sind heute alle unbesorgt zusammen und feiern!«, merke ich an.
»Ach! Wir schaffen das! Wir sind das Entdeckerteam! Schon vergessen?«, antwortet Anna.
Ich hoffe es. Was hat dieses fremde Dorf bloß vor? Ich habe Torwald noch nie so besorgt gesehen, wie heute! Wir müssen uns wirklich beeilen!
Wenige Minuten später erreichen wir die Wolfshöhle. Wir halten an. Ich presse erschöpft die Hände auf den Oberschenkel und atme tief durch. Auch Anna erholt sich einen kurzen Moment und lässt Hannelore wieder zu Boden.
»Wir sind endlich da. Ich hoffe sie ist auch wirklich hier«, sage ich.
»Die Wölfe sind jedenfalls da«, ergänzt Anna und schaut sich um.
Das Rudel umkreist uns und bleckt die Zähne. Ein Rückzug ist bereits nicht mehr möglich. Hannelore positioniert sich Schutz suchend zwischen Annas Beinen.
»Nika!«, ruft Anna in Richtung der Höhle. »Wir brauchen dringend deine Hilfe. Torwald ist in Gefahr!«
»Nika!«, wiederhole ich den Ruf, sichtlich beengt von der Situation, dass die Wölfe sich näher auf uns zubewegen. 
Plötzlich ertönt ein Heulen aus der Höhle und die Meute hält inne. Es ist das Alphatier, Lucky.
Er nähert sich langsam dem Geschehen.
»Schau! Seine Pfote sieht schon wieder viel besser aus«, sagt Anna. 
Bei ihm empfindet sie keinerlei Furcht. Auch Lucky verhält sich anders. Als er näher auf Anna zukommt, wedelt er mit seinem Schwanz und schaut zu ihr auf.
»Er erinnert sich an mich. Wie schön!«, sagt sie freudig und kniet sich zu dem Wolfsmännchen nieder.
Anna streichelt ihm über das Fell. Hannelore sucht verängstigt Zuflucht bei mir. Wer weiß wie hungrig diese Meute ist, nachdem Torwald sich heute nicht um sie gekümmert hat.
»Sie mal einer an«, erklingt eine vertraute Stimme aus der Höhle, »die mutigen Kinder von gestern. Wollte euch mein Liebster nicht heute aus dem Wald führen?«
Nika kommt langsam aus der Höhle hervor. Erneut ist sie in einer Kutte verschleiert, dass es schwerfällt, sie aus der Ferne genauer zu erkennen. 
Während sie sich umschaut, führt sie die Unterhaltung verwundert fort: »Wo ist er? Warum ist er nicht bei euch?«
»Das ist der Grund, warum wir hier sind«, antworte ich hektisch. »Torwald ist in Gefahr! Er hat uns zu dir geschickt. Er meinte, dass du uns bestimmt hilfst. Wir müssen ihn schnell befreien. Er wird im Dorf, im Verlies unter der Kirche, gefangen gehalten.«
»Oh nein! Das ist furchtbar!«, gibt Nika schockiert von sich. »Erzählt mir bitte, was seit gestern passiert ist.«
Im nächsten Moment glühen ihre Augen grünlich und sie macht eine Handbewegung zur Seite. Die Wölfe, mit Ausnahme von Lucky, scheinen darauf zu reagieren. Sie entfernen sich von uns, bis sie den Eingang der Höhle erreichen. 
Sie ist in der Lage die Wölfe zu kontrollieren. Das ist faszinierend. Ob sie dies auch mit anderen Tieren oder Pflanzen macht? 
Bei Anna entdecke ich eine ähnliche Faszination in den Augen. Im Moment bleibt uns aber keine Zeit, das zu vertiefen. Als sich Nika auf einige Steine nahe der Höhle setzt, fordert sie uns auf, dass wir uns zu ihr gesellen. Anna, Lucky, Hannelore und ich zögern nicht lange und versammeln uns. Kurz und knapp erklären wir ihr, was seit gestern Abend passiert ist. Wir lassen dabei auch nicht aus, dass Torwald von einer Gefahr für die ganze Dorfgemeinschaft durch ein weiteres Dorf sprach. 
Sie hört aufmerksam zu und ergreift schlussendlich das Wort: »Ich verstehe. Das ist wirklich beunruhigend.«
Nika holt ihren rechten Arm aus der Robe hervor und streckt ihn vor uns aus. Von der Form sieht er aus, wie bei einem Menschen. Der einzige, gravierende Unterschied ist die grünliche Färbung und kleine Äste und Blätter, die aus ihm herauswachsen. 
»Die Blätter sehen verwelkt aus«, erwähnt Anna sichtlich aufgeregt, eine Dryade aus der Nähe zu betrachten. »Sollen wir dir etwas Wasser holen?«
»Ich befürchte, Wasser wird mir nicht mehr helfen. Meine Lebenszeit neigt sich dem Ende«, antwortet Nika und erhebt sich. 
Nach einem kurzen Seufzen führt sie das Gespräch fort: »In diesem Zustand kann ich euch und meinem geliebten Torwald nicht helfen. Es tut mir Leid, Kinder.«
»Du kannst uns nicht helfen? Was sollen wir jetzt tun? Du warst unsere größte Hoffnung!«, sage ich und halte mir die Hände an den Kopf.
»Einen anderen Plan, Torwald zu befreien, haben wir nicht. Die Zeit ist einfach zu knapp!«, fügt Anna hinzu.
»Naja, eine Sache gibt es, die funktionieren könnte«, macht uns Nika Hoffnung und starrt in die Tiefen des Waldes. »Aber die ist sehr gefährlich! Darum sollte ich euch nicht bitten.«
»Gefährlich? Wenn es unser Dorf rettet, sind wir bereit! Oder Noel?«, erwähnt Anna hoch motiviert und schaut zu mir hinüber.
»Auf jeden Fall! Was sollen wir tun?«, stimme ich ihr zu und warte gespannt auf die Reaktion von Nika.
»Die Mastar-Quelle. Wenn ich Wasser aus dieser Quelle bekomme, verlängert sich meine Lebenszeit nicht nur, sondern sie erneuert sich vollständig und ich komme wieder zu vollen Kräften. Es ist wie ein Verjüngungselixier«, erklärt Nika.
»Die Mastar-Quelle? Wo soll das sein?«, fragt Anna neugierig, während sie fiebrig der Erzählung lauscht.
»Die Mastar-Quelle ist ein längst vergessenen Relikt aus vergangenen Zeiten. Sie befindet sich in den unterirdischen Gängen der Mastar-Ruinen in diesem Wald - nicht weit von hier, südlich der Wegekreuzung. Ich bräuchte nur eine kleine Phiole Wasser aus der Quelle und ich kann euch sicherlich helfen«, klärt Nika uns auf.
»Wenn sie hier in der Nähe ist«, sage ich, »warum hast du sie dann bisher nicht mit Hilfe von Torwald geholt?«
»Da gibt es ein Problem«, erwidert Nika. »Die Mastar-Ruinen haben seit einiger Zeit einen Wächter. Eine Kreatur, die noch älter ist, als die Ruinen selbst. Mastar war einst auch ein Dorf. Doch es wurde von einem grausamen Schicksal ereilt und verwandelte sich in einen Friedhof voller Schmerzen. Von diesem Schmerz und Leid wird diese Kreatur angezogen. Angereichert mit einem unstillbaren Hunger auf Lebewesen, die bereits Leben von dieser Welt genommen haben, ist es Torwald und mir bisher nicht möglich gewesen, die Quellen zu erreichen.«
»Warum sollten wir es dann schaffen? Das verstehe ich nicht«, frage ich verwirrt nach.
»Weil sie euch nicht erkennen kann. Lebewesen, die unbefleckt von Sünden sind, kann diese Kreatur nicht sehen. Ich spüre, dass ihr bisher noch kein Leben von dieser Welt genommen habt«, erläutert Nika. 
»Ich verstehe!«, ruft Anna spannungsgeladen und springt auf. »Torwald ist Jäger! Das heißt, er jagt und tötet Tiere. Somit ist er nicht mehr unbefleckt. Aber was hast du getan, dass du nicht mehr unbefleckt bist?«
Sie schaut zu Nika hinüber. Diese dreht sich zu ihr und nimmt ihre Kapuze ab. Ihr Gesicht ist geprägt von einer Narbe, welche sich von der Stirn über das rechte Auge bis zu ihrem Kinn zieht. Aus der Nähe sind ihr Alter und ihre Schwäche deutlich sichtbar.
»Ich habe schon so viel erlebt«, führt sie aus. »Da blieb es nicht aus, wenn auch nur zu meinem  persönlichen Schutz, solche Sünden zu begehen. Für eine Erklärung ist aber keine Zeit. Ihr müsst aufbrechen, wenn wir es noch rechtzeitig schaffen wollen.«
Nika kniet nieder und berührt sanft mit ihren Fingern den Boden. Eine kleine Pflanze steigt empor und wächst rasend schnell.
»Unglaublich! Wie machst du das?«, fragt Anna erstaunt.
»Wir nennen es »Idan«. In eurer Sprache kennt man es unter dem Begriff Magie. Sie tritt in den unterschiedlichsten Formen auf. In diesem Fall handelt es sich um Erdmagie«, lehrt uns Nika und pflückt die entstandene, blau blühende Blume. 
So etwas habe ich noch nie gesehen. Neben mir sehe ich Anna mit funkelnden Augen auf die Pflanze starren. Ich spüre ihre Begeisterung. 
»Wenn wir Torwald und das Dorf gerettet haben, will ich alles über diese Magie wissen. Du musst mir alles erzählen, was du weißt!«, fordert Anna Nika auf. 
»Alles zu seiner Zeit«, antwortet Nika und reicht Anna die blaue Blume. »Hier, nehmt diese Blume und tragt sie in den Mastar-Ruinen bei euch. Sie sorgt dafür, dass ihr in dem dort vorherrschendem Rauch gut atmen könnt.«
»Ein Rauch?«, frage ich irritiert nach. »Was ist das für ein Rauch und woher kommt er?«
»Er kommt von der Kreatur. Sie erzeugt ihn tagtäglich, während sie Luft in ihren Körper saugt und anschließend mit anderen verspeisten Stoffen verbrennt. Im schlimmsten Fall sorgt der Rauch für einen hochsauren Regen, der einen immensen Schaden in der Natur verursacht. Wundert euch also nicht, wenn die Mastar-Ruinen sehr abgestorben und verbrannt aussehen«, erklärt Nika.
»Der Ignaeria!«, schlussfolgert Anna, während sie ihren Zeigefinger anhebt. »Noel! Das muss der Ignaeria sein, von dem dein Vater gesprochen hat.«
Erstaunt schaut Nika zu Anna hinüber und sagt: »Wie es scheint, habt ihr von dieser Kreatur schon gehört.«
»Wir haben heute morgen seine Spur auf dem Pfad nach Istal gesehen. Die Fußspuren waren riesig!«, erwidert Anna und stellt die Größe mit einer Geste ihrer Hände dar.
»Wie bereits erwähnt, müsst ihr euch sputen! Ihr solltet jetzt wirklich losgehen. Solange ihr die Blume bei euch tragt und den Ignaeria nicht provoziert, solltet ihr in Sicherheit sein«, bringt Nika die Unterhaltung zu einem Ende.
Im nächsten Augenblick zeigt Nika den Pfad entlang, von dem wir gekommen sind und sagt: »Folgt einfach dem Mastar-Pfad bis zum Ende und ihr könnt euer Ziel nicht verfehlen. Haltet in den Ruinen nach einem Zeichen von einem Brunnen an den Wänden Ausschau. Es wird euch den Weg zu eurem Ziel leiten.«
»Aber wie transportieren wir das Wasser aus der Quelle wieder zu dir?«, frage ich nach.
»Das ist kein Problem«, wirft Anna ein und holt aus ihrer Tasche eine kleine Phiole. »Das sollte reichen, oder?«
Nika nickt Anna zu und verabschiedet sich von uns: »Ich wünsche euch viel Glück. Das Schicksal von Torwald, dem Dorf und euch selbst liegt nun vollkommen in euren Händen.«
Mit einer Geste verabschieden wir uns von Nika und den Wölfen. Ich schaue an den Baumkronen vorbei in den Himmel. Auf welchen Pfad führst du uns hier Stellux? Ich hoffe und bete dafür, dass es für uns alle gut ausgeht.
»Noel! Nicht träumen!«, fordert mich Anna auf und erhöht das Tempo. »Wir haben keine Zeit mehr!«
Sie hat recht. Ich nicke ihr zu und laufe schneller. Auf zu den Mastar-Ruinen!

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Mastar-Ruinen

Es ist später Nachmittag und wir sind schon eine Weile auf dem Mastar-Pfad. Die Wegekreuzung haben wir hinter uns gelassen. Auch auf diesem Pfad sieht der Wald aus wie zuvor. Der Weg ist alt. Umso länger wir uns auf ihm bewegen, desto mehr ist er mit Pflanzen überwuchert. 
»Sieh doch, Noel! Dort ist Rauch!«, weist mich Anna auf die Rauchwolken in der Ferne hin. 
»Warum sind sie teilweise orange gefärbt?«, frage ich nach.
»Gute Frage! Das kann ich leider auch nicht sagen. Normaler Rauch sollte immer eine dunkle, gräuliche Färbung haben. Dieser wirkt schädlicher. Wir können nur hoffen, dass diese Blume als Schutz funktioniert«, analysiert Anna und dreht sich zu mir, um auf die blaue Blume zu zeigen, die sie, wie die Luisine zuvor, in ihr Haar gesteckt hat. 
Blumen im Haar stehen ihr. Vielleicht sage ich ihr das? Wer weiß, ob ich nochmal dazu komme? Nein, besser nicht! Wir haben keine Zeit und das lenkt uns nur ab.
»Noel!«, ruft mich Anna. »Du träumst doch schon wieder! Wir müssen uns jetzt vollkommen konzentrieren! Wer weiß hinter welcher Ecke dieser Ignaeria lauert.«
»Entschuldigung! Du hast recht!«, antworte ich ihr hastig. 
Ich vermeide gern eine Begegnung mit dem Ignaeria. Andererseits gibt es tief in mir diesen Entdeckerdrang. Er kann es kaum erwarten, die Kreatur zu sehen.
Wir sind jetzt wenige Meter vor dem Rauch. Er versperrt uns die komplette Sicht.
»In diesem Rauch sind also die Mastar-Ruinen«, erwähne ich. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich vor Begeisterung freue, oder vor Angst erstarre, weil ich nicht sehe, welche furchteinflößende Kreatur sich dahinter verbirgt.«
»Der Ignaeria«, betont Anna. »Bei all meinem Wissensdurst verzichte ich auch gerne auf eine nähere Begegnung.«
Anna dreht sich zu mir um und sagt: »Aber wir sind das Entdeckerteam. Solche Orte sind wie geschaffen für uns! Nicht wahr, Noel?«
Sie zwinkert mir lächelnd zu. Ihre Ausstrahlung ist bezaubernd. 
»Legen wir los?«, frage ich sie mit einem Grinsen.
Anna atmet tief durch, nimmt Hannelore auf den Arm und antwortet: »Natürlich! Los geht´s!«
Langsam bewegen wir uns auf die Wand aus Rauch zu. Als wir kurz vor ihr stehen, wird der Rauch zur Seite gedrängt. Je mehr wir eindringen, desto mehr Rauch schwindet. Es ist, als meide er uns in einem Radius von drei Meter.
»Das muss das Werk der blauen Blume sein! Wie ist das nur möglich? Das ist also Magie?«, fragt Anna erstaunt.
»Ich kann es mir nicht anders erklären«, antworte ich und schaue mich gespannt um.
Der Boden sieht stark verbrannt und verwelkt aus. Nika hat Recht. Selbst die Steine, haben alle kleine Löcher. Als wenn jemand mit einem spitzen Gegenstand in ihnen herumgestochert hat. 
Der Weg ist jetzt nicht mehr erkennbar. Wir bewegen uns weiter in die Tiefen. Es herrscht eine sehr bedrückende Stille. Die Geräusche des Waldes verschwinden. Unsere Schritte verlangsamen sich. 
Ich flüstere: »Meinst du, wir sind noch auf dem richtigen Weg?«
Bevor Anna antwortet, erscheint eine alte Steinwand vor uns. Sie ist ebenfalls stark durchlöchert. 
»Sieht so aus«, antwortet sie. »Jetzt müssen wir nur noch einen Eingang finden.«
Während ich mich an der Wand bewege und nach einem möglichen Durchgang suche, mustert Anna den Rauch.
»Findest du es nicht komisch, dass der Rauch so dicht ist«, fragt sie. »Es ist als ob er nicht in den Himmel aufsteigen kann.«
»Jetzt, da du es erwähnst. Das ist wirklich ungewöhnlich«, antworte ich ihr und schaue mich dabei um.
»Er scheint an diesem Ort eingesperrt zu sein. Ob das auch etwas mit Magie zu tun hat?«, wundert sie sich. 
»Gut möglich«, erwidere ich.
Im nächsten Augenblick bleibe ich schlagartig stehen. Anna reagiert zu spät und rempelt mich an. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, mein Gleichgewicht zu halten. Hannelore landet dabei unverletzt auf dem Boden.
»Man! Aua! Warum hälst du einfach an?«, flucht sie lautstark.
»Psst!«, fordere ich sie auf leise zu sein.
Ich zeige auf ein riesiges, rötliches Objekt vor uns. Es wirkt auf dem ersten Blick, wie ein ungewöhnlicher Stein.
»Was ist das denn?«, fragt Anna mit faszinierten Augen. 
Gerade als sie sich zu nähern versucht, halte ich sie am Arm zurück und bitte sie zu warten.
»Ich dachte zuerst, es wäre ein einfacher Stein, aber sieh mal genauer hin. Steine haben doch keine Zähne?«, erkläre ich.
»Zähne?!«, fragt sie und reißt sich von meiner Hand los, um sich das fremde Objekt genauer anzusehen.
Je näher sie kommt, desto mehr wird vom Rauch  freigelegt. Sie kniet sich hin.
»Oooh! Du hast recht!«, flüstert sie. »Ist das etwa der Ignaeria?!«
Ich zucke mit den Achseln und wir bewegen uns vorsichtig die Mauer entlang. Dabei lassen wir nicht eine Sekunde diese riesigen Zähne aus den Augen. Der Gedanke, dass die Zähne fast so groß wie meine kompletten Beine sind, lässt grobe Vermutungen über die restliche Größe der vermeintlichen Kreatur zu. Ich spüre, wie die Anspannung in mir steigt.
»Er scheint zu schlafen, oder?«, flüstere ich. »Dieses große Maul ist wirklich furchteinflößend. Ich hätte nie gedacht, dass so eine gefährliche Kreatur im Wald lebt.«
»Seine Haut wirkt wie Stein! Ich habe noch nie von einem solchen Tier gelesen. Das muss der Ignaeria sein. Von was er sich wohl ernährt? Braucht er überhaupt Nahrung? Wie atmet er in diesem Rauch? Woher bezieht er seine Energie?«, stellt Anna eine Frage nach der anderen. Ihre Neugierde ist ihr ins Gesicht geschrieben.
Wir bewegen uns weiter vor. Immer mehr wird von dem Wesen sichtbar. Es ist bereits der ganze Kopf zu sehen.
»Hat er überhaupt Augen?«, frage ich. »Nika meinte doch, er kann uns nicht erkennen. Vielleicht sieht er mit Magie?«
»Das kann durchaus sein«, antwortet Anna. »Aber er hat zwei Ohren. Wir sollten leise sein!«
Anna zeigt auf zwei Steinspitzen, die aus dem Kopf hervorragen. Wir entdecken auf einmal einen schmalen Durchgang in der Mauer.
»Schnell! Hier hindurch!«, sagt Anna und schlüpft durch den dünnen Pfad.
Ich und Hannelore folge ihr, ohne zu zögern. Mit jedem Meter, den ich mich von dieser Bestie entferne, fühle ich, wie die Erleichterung in meinem Körper anwächst.
Als wir, nach unserer Einschätzung, weit genug entfernt sind, halten wir an.
»Puh! Zum Glück hat er geschlafen. So faszinierend er auch ist, wach möchte ich ihn nicht aus nächster Nähe erleben. Diese Zähne hätten uns im Handumdrehen zerfleischt«, sagt Anna und verschnauft einen kurzen Moment.
»Wir haben nicht einmal das Ende des Körpers gesehen!«, füge ich hinzu.
Anna lächelt.
»Was ist so lustig?«, frage ich verwundert nach.
Sie beginnt zu lachen und sagt: »Es war einfach aufregend! Alles ist so anders, als der Alltag im Dorf. So riskant es auch gewesen ist, genau diesen Nervenkitzel habe ich mir gewünscht. Außerdem sind wir ein gutes Team! Da kann nichts schiefgehen!«
Sie wirkt sehr glücklich. Ihre Freude ist wie immer ansteckend. Außerdem ist sie dann noch hübscher als sonst. Für einen kurzen Moment vergessen wir, warum wir wirklich hier sind und lachen einfach. 
Wir lachen weiter, bis uns Augenblicke später Hannelore ablenkt. Wir beobachten unsere tierische Partnerin, wie sie fleißig etwas vom Boden pickt und sich dabei von uns entfernt. Nur der Rauch hält sie auf ihrer Futtersuche auf. 
»Was frisst du da, Hannelore?«, fragt Anna und nähert sich ihr. 
Das Azurosa-Weibchen nutzt den Moment, als sich, durch die Bewegung von Anna, der Rauch verschiebt. Überall auf dem kahlen Boden, liegen kleine gelbliche Samenkörner. Sie folgt einer gezielten Route. Es ist, als wenn jemand einen Weg mit Tierfutter ausgestreut hätte. 
Wir folgen ihr. Der Rauch enthüllt dabei mehrere Steinkonstrukte. Sie sind sehr alt. Von Pflanzen und Kleintieren fehlt dabei jede Spur.
»Wo führt uns Hannelore bloß hin? Ist das noch der richtige Weg?«, frage ich.
»Ich habe ein gutes Gefühl«, antwortet Anna. »Es scheint als hätten die Samen als Einzige den Rauch überdauert. Es leben hier keine Tiere, die sie fressen können und der Boden ist vermutlich sehr nährstofflos. Dadurch können sie auch nicht gedeihen.«
Wir folgen Hannelore noch einige Zeit. Alle paar Meter treffen wir auf weitere Ruinen.
»Das Dorf muss groß gewesen sein. Ob diese Steinruinen einmal Häuser waren? Wer hat hier wohl gelebt?«, frage ich.
Anna dreht sich zu mir um und bewegt sich rückwärts, um mir zu antworten: »Das waren bestimmt Häuser. Aber der Stil ist ein ganz anderer, als bei uns im Dorf. Ich habe in einem meiner Bücher schon von Häusern aus Stein gelesen. Dort hat man kleine Steinblöcke gestapelt, miteinander verbunden und so die Hauswände geformt.«
Häuser aus Stein. Es kommt mir vor, als hätte ich so etwas schon einmal gesehen. Nur wo? Ich erinnere mich nicht.
»Warum ist in unserem Dorf alles aus Holz?«, frage ich.
»Das habe ich Vater auch gefragt«, antwortet sie direkt. »Er hat gesagt, dass es zu aufwändig gewesen wäre, alle Häuser aus Stein zu bauen. Die richtigen Steine würden aus den Bergen kommen und man bräuchte eine Masse, mit der die Steine stabil miteinander verbunden werden. Durch das angenehme Klima bei uns im Wald seien Häuser aus Holz vollkommen ausreichend.«
Anna bewegt sich auf eine der Ruinen zu. Hannelore ist dabei kurz überrascht, dass der Rauch sich auf ihrem Nahrungsweg nicht weiter aufdeckt. 
»Diese Steine sind anders. Es sind keine einzelnen Steinblöcke. Sie wirken eher, als hätte man sie geformt. Aber dafür sind sie normalerweise viel zu fest und unbeweglich«, sagt Anna.
»Magie?«, frage ich und erwische mich dabei, dass ich jede unvorstellbare Tat neuerdings mit diesem Begriff erkläre.
»Wenn das wirklich auch Magie war, bin ich noch mehr interessiert, alles über diese mir noch so unbekannte Kraft zu erfahren. Wenn wir erst einmal die Phiole haben und Torwald gerettet ist, muss mir Nika alles darüber erzählen«, sagt Anna mit energischem Ton.
Sie steht auf und wir führen unsere Suche fort. Nach einigen Schritten erreichen wir eine Steintreppe. Die Samen leiten uns hinauf. An den Seiten sind Steinsäulen. Auf ihnen sind Statuen von weiblichen Körpern in unterschiedlichen Positionen. Eine trinkt aus einer Schale. Eine andere streichelt einen Wolf. Oben angekommen sind zwei weitere. Sie sind umringt von Dornenranken, die einen Bogen über der Treppe erzeugen.
»Siehst du, Noel. Das sieht nach dem richtigen Weg aus«, sagt Anna voller Selbstvertrauen.
»Wer hätte gedacht, dass uns Hannelore einmal so nützlich sein wird«, antworte ich gehässig. 
Bisher war das Azurosa-Weibchen mehr eine Last als alles andere. Anfangs wollten wir ihr nur zur Flucht verhelfen und ihr Leben retten. Aber jetzt ist sie ein Teil von uns. Sie weicht uns nicht von der Seite.
»Ich wusste schon immer, sie ist ein ganz besonderer Vogel!«, sagt Anna mit stolzer Miene.
Was uns wohl hinter der Treppe erwartet?

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Quelle

Die Sonne ist nicht sichtbar. Der Rauch hüllt uns weiterhin ein. Wir sind über eine Stunde unterwegs, seitdem wir Nika verlassen haben. Ich hoffe, wir finden die Mastar-Quelle bald.
Hinter den Steintreppen ist ein Eingang zu sehen. Die zugehörige Steintür ist auf einer Seite geschlossen. Die Zweite fehlt. 
»Der Rauch scheint nicht in das Gebäude einzudringen«, merkt Anna an. »Und das, obwohl die Tür geöffnet ist.«
Magie - schwirrt es mir durch den Kopf. Ich behalte es aber für mich. Hannelore betritt zuerst die alten Gemäuer, da die Samenkörner in das Gebäude führen. Anna und ich folgen ihr. 
»Unglaublich!«, sagt Anna und schaut sich in dem Eingangsbereich um. 
Die Innenwände sind mit Ranken und Pflanzen versehen. An einigen Stellen kommen blaue Blüten zum Vorschein. Sie geben ein grelles, blaues Licht von sich, wodurch der Raum, trotz fehlender Fenster und Öffnungen, gut sichtbar ist.
»Glaubst du, es sind die gleichen Blumen, wie die, die du in deinem Haar trägst?«, frage ich Anna.
»Das erklärt, warum der Rauch hier nicht eintreten kann«, antwortet sie.
 Anna mustert Steintafeln, die an einer der Wände anlehnen und sagt: »Diese Bilder, die Blumen und Pflanzen, die Statuen der Frauen dort draußen, ob diese Ruinen einst ein Dryaden-Dorf waren?«
»Du hast Recht. Das ist gut möglich. Deswegen weiß Nika auch so viel über diesen Ort«, antworte ich.
»Was ist hier bloß passiert, dass es zu solch einer Ruine wurde? Und was hat diese Kreatur, der Ignaeria, damit zu tun?«, fragt sich Anna.
Plötzlich ertönt ein Geräusch aus der anderen Ecke des Raumes und wir drehen uns schlagartig um. 
»Hannelore! Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt«, sagt Anna.
Sie steht mit einem Sack im Schnabel vor uns und versucht an den Inhalt zu kommen. Anna öffnet ihn. Er ist voller Samenkörner.
»Wir nehmen einige mit. In Ordnung?«, fragt sie Hannelore. 
Es kommt keine Antwort. Dennoch habe ich das Gefühl, dass Anna mit ihr aktiv kommuniziert. Wir schauen uns weiter um und dringen tiefer in das Gebäude ein. Am Ende eines längeren Ganges erreichen wir eine Treppe in den Untergrund. 
Anna mustert erneut eine der Wände und sagt: »Hier an der Wand ist ein Brunnensymbol! Es ist, wie Nika es beschrieben hat. Wir sind richtig!«
Schritt für Schritt wagen wir uns in den Abgrund. Die Treppe nimmt kein Ende. Umso tiefer wir herabsteigen, desto geringer dringt das Licht aus der oberen Etage zu uns hindurch. An den Wänden sind nur noch wenige blaue Blumen. 
»Überall sind Zeichnungen an den Wänden eingraviert«, sagt Anna und versucht, Staub von der Wand zu wischen. »Hier sind viele Dryaden zu sehen. Sie trinken mit einer Schale aus dem Brunnen. Auf den Bildern dahinter sind sie viel schöner gezeichnet - sie wirken glücklicher.«
»Die Mastar-Quelle. Das muss das Verjüngungselixier sein, von dem Nika gesprochen hat. Wir sind bestimmt ganz nah«, sage ich aufgeregt und erhöhe motiviert die Geschwindigkeit.
Anna und Hannelore folgen mir mit schnellem Schritt. Kurze Zeit später erreichen wir das Ende des Abstiegs und schauen uns um. Der Weg spaltet sich in mehrere Gänge auf.
»Dort! Das muss es sein!«, sage ich und zeige in eine Richtung, aus der am Ende ein blaues Licht schimmert. Wir eilen los und erreichen unser Ziel.
»Wow! Ein Springbrunnen! Ich kenne sie aus meinen Büchern«, sagt Anna.
Er ist direkt vor uns. Daneben sind zwei Sträucher. Der Boden des Raumes ist mit unterschiedlich Blumen und Büschen geschmückt. An der Decke gibt es eine Vielzahl von Klettergewächsen, die ebenfalls blaue Blüten haben. 
»Die Mastar-Quelle. Wir haben sie wirklich gefunden«, sage ich freudestrahlend. »Jetzt müssen wir nur noch eine Phiole füllen und sie zu Nika bringen.«
»Dann erfahren wir endlich, was es mit diesem Galvanna auf sich hat und kommen aus dem Wald heraus«, fügt Anna hinzu. 
Sie setzt Hannelore ab und umarmt mich vor Freude. Für einen kurzen Moment bin ich wie gelähmt. Diese Nähe zu ihr lässt mein Herz rasen. Wieso macht sie das? Ich räuspere mich. Sie schaut zu mir hoch und unsere Blicke treffen sich. Es ist das gleiche Gefühl, wie heute Vormittag in Istal.
Anna reist sich von mir los, dreht sich zur Seite und sagt: »Oh! Tut mir leid! Ich wollte dich nicht bedrängen. Kümmern wir uns wieder um unsere Aufgabe!« Sie greift nach ihrer verpackten Phiole und bewegt sich zur Quelle.
»Nein. Kein Problem. Ich liebe deine Umarmungen ... und alles andere auch«, denke ich mir in meinem Kopf. Ich fühle mich wie gelähmt. Hätte ich es ihr sagen sollen? Es war ein guter Moment. 
»Alles in Ordnung?«, fragt Anna mit einem Lächeln, während sie die Phiole mit Wasser befüllt.
»Äh ... Na klar!«, antworte ich, nach wie vor mit erhöhtem Herzschlag.
Um mich zu beruhigen, sehe ich mich weiter im Raum um. Die Sträucher sind aufsehenerregend. Sie sind sehr schmal und mit unterschiedlichen Blättern verziert. Ich wühle mich durch das Gewächs. Hinter dem Strauch verbirgt sich ein kräftiger Stamm.
»Was machst du da?«, fragt Anna, als sie die Phiole wieder sicher verstaut.
»Dieser Strauch ist beeindruckend«, erkläre ich. »Die Blätter sind alle verschieden und er hat einen sehr dicken länglichen Stamm, wie bei einem Baum.«
Ich taste mich den Weg des Stammes entlang nach oben.
»Nein! Bei Stellux! Das kann nicht sein!«, erschrecke ich mich und lege mit meinen Händen die Sträucher am oberen Ende frei. Anna schaut gespannt zu. 
»Ist das ... Ist das etwa ein Kopf?!«, ruft sie entsetzt.
Wie gebannt starren wir beide auf einen, aus Rinde geformten Kopf. Der Mund, die Nase, geschlossene Augen - es ist alles zu erkennen! 
»Was ist in diesen Ruinen geschehen?«, frage ich.
Ich fühle, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft.
»Das muss eine Dryade sein«, sagt Anna. »Ist sie ... tot?«
Zeitgleich reißt der Kopf mit einem Ruck seine Augen auf. Anna und ich schrecken schlagartig zurück. Dabei stoße ich gegen den Strauch auf der anderen Seite. Ich schaue zu ihm. Erneut starren mich zwei geöffnete Augen an.
»Weg hier!«, schreie ich panisch und reiße mich von dem Gewächs mit aller Kraft los.
Anna packt Hannelore und wir fliehen. Schnell eilen wir durch den Gang. Ich höre, wie es hinter mir raschelt. Nicht umdrehen! Nicht umdrehen! Nur rennen!
Wir erreichen die Treppe. Das Atmen fällt mir zunehmend schwerer. Anna schafft es, mein Tempo zu halten. Es ist keine Zeit für Pausen. Keine Zeit für irgendetwas, außer weiterlaufen!
 Das Rascheln hört nicht auf. Oh Stellux, wo sind wir hier wieder reingeraten. Von Sträuchern mit Augen, oder anderen Dryaden, hat Nika kein Wort gesagt! Wir sind oben! In Windeseile rennen wir zum Eingangsbereich.
»Die Ranken verschließen den Ausgang!«, ruft Anna. »Wir müssen uns beeilen!«
Sie hat recht. Mit jeder Sekunde verschließt sich der Ausgang um ein Stück. 
»Das schaffen wir!«, rufe ich zuversichtlich.
Dann spüre ich, wie sich etwas an meinem linken Bein festklammert. Ich werde zu Boden gerissen und drehe mich um. Der ganze Raum hinter uns ist mit Ranken und Wurzeln überwuchert. Ich versuche, mich zu befreien. Zwecklos.
»Noel!«, ruft Anna. »Warte, ich mache dich los!«
»Nein!«, antworte ich. »Du musst die Phiole zu Nika bringen. Bitte! Davon hängt alles ab!«
»Ich lasse dich bestimmt nicht hier allein!«, widersetzt sie sich meiner Bitte und versucht, mich zu befreien. »Wir schneiden es einfach ab!«
Bevor sie zu ihrer Tasche greift, wird auch sie an ihren Armen gefesselt. 
»Oh! Verdammt! Ich kann mich nicht mehr bewegen!«, flucht sie.
Die Situation scheint aussichtslos. Ranken schlingen sich mehr und mehr um unsere Körper. Ich schließe die Augen und bitte Stellux inständig darum, uns aus dieser misslichen Lage zu befreien. Wir haben so viel vor. Es darf hier nicht enden! Nicht in diesen alten Ruinen. Das Dorf, Nika, Torwald, unsere Eltern - sie verlassen sich alle auf uns. 
Dann passiert das Wunder. Die Ranken lösen sich. Ich öffne die Augen und sehe Hannelore, mit einem bläulichen Schimmer. Sie steht vor uns auf einer der Wurzeln und wird langsam in die Tiefen des Gewächses getragen. Dabei hebt sie ihren rechten Flügel, als verabschiede sie sich bewusst von uns.
»Hannelore! Nein!«, ruft Anna und versucht ihr nachzugehen. 
Ich halte sie an ihrem Arm fest und sage mit sanften Worten: »Lass uns gehen. Sie hat sich entschieden und uns damit gerettet.«
Widerwillig und mit Tränen versehen gibt sich Anna hin. Wir rennen zum Ausgang, der noch einen Spalt geöffnet ist. Im nahezu letzten Moment gleiten wir durch die Öffnung und sind wieder umringt von dem orangenen Rauch. Wir liegen beide kraftlos auf dem Boden.
»Was hat sie getan? Was haben sie mit ihr vor?«, fragt Anna von Tränen überströmt.
Ich richte mich in eine sitzende Position auf und antworte: »Es ist, als hätte sie sich zum Austausch angeboten. Als hätte sie mit dem Gewächs kommuniziert. Nur wie?«
»Ich weiß es nicht. Es ist mir nicht bekannt, dass Tiere sich abseits ihrer eigenen Art miteinander verständigen können. Aber mich überrascht nicht mehr viel. Dieser orangene Rauch, die rasch wachsenden Ranken, der Ignaeria, Magie. Hättest du mir vor einigen Tagen erklärt, dass es diese Dinge gibt, hätte ich dich ohne zu zögern für verrückt erklärt«, antwortet Anna und erhebt sich dabei wieder vom Boden. Sie schaut nochmal zu dem verschlossenen Eingang. Er ist eingestürzt.
Sie hält eine ihrer Handflächen an die äußere Steinwand und sagt: »Ob sie noch lebt? Ob es ihr gut geht?«
»Natürlich! Du hast es doch selbst vorhin gesagt. Sie ist ein ganz besonderer Vogel!«, antworte ich und lächele ihr zu.
Anna dreht sich zu mir um und sagt: »Du hast Recht!«
Die Zeit drängt. Nika wartet sicher. Auf dem Rückweg orientieren wir uns an den Fußspuren des Hinweges. Es herrscht Stille. Zu tief sitzt der Verlust von Hannelore. Als wir am Ende den Durchgang erreichen, bleiben wir besorgt stehen.
»Du spürst es auch oder?«, frage ich Anna.
»Der Boden ... er vibriert regelrecht«, antwortet sie.
»Das heißt wohl, der Ignaeria ist wach! Wir müssen jetzt so leise sein, wie möglich!«, sage ich und gehe auf Zehenspitzen zum Pfad an der Mauer. 
Anna nickt und folgt mir. Das Beben des Bodens nimmt zu. Es ist ein gleichmäßiger Takt. Den Standort der Kreatur auszumachen scheint unmöglich. Der starke Rauch führt zu einer geringen Sichtweite. Der Ignaeria kann jeden Moment auftauchen. Was machen wir dann? Laufen? Oder sollten wir lieber stehen bleiben? Er hat keinerlei Augen, aber ein erstklassiges Gehör.
Umso stärker das Beben, desto langsamer und behutsamer sind unsere Schritte. Ich drehe mich zu Anna um. Sie mustert den Boden unter ihr und vermeidet jedes Geräusch. Sie lächelt mich an. Einen kurzen Moment spüre ich Erleichterung.
Auf einmal reißt sie ihren Augen weit auf und deutet panisch mit ihrem Finger hinter mich. Ich drehe mich schlagartig um. Das, was ich zu Gesicht bekomme, verschlägt mir den Atem. Der Kopf des Ignaeria ist in unser Sichtfeld geraten und nahezu regungslos. Er hat keine Augen, dafür aber scharfe Zähne. Durch den Rauch erkenne ich nur einen Teil seines Kopfes. Der Radius, den die Blume erzeugt ist, zu klein. Das Beben hat aufgehört. 
Die Stille ist bedrückend. Anna und ich sind beim Anblick dieses Kolosses wie erstarrt. Ich spüre, wie meine Hände und Beine anfangen zu zittern. Mein Körper fordert mich auf zu fliehen. Ich erahne, dass es Anna genauso ergeht. Wir dürfen uns nicht bewegen. Die Kreatur lauert auf eine Reaktion. 
Der Ignaeria schwenkt seinen Kopf und stößt ein dröhnendes Gebrüll aus. Der Druck ist so immens, dass der Rauch in starke Schwingungen gerät. Es ist, als zittere er vor Angst.
Anna hält dem Stress nicht mehr stand und versucht, an der Kreatur vorbeizurennen. Im letzten Moment greife ich mir ihre Hand und zerre sie dicht an mich heran. Sie schaut überrascht zu mir hoch und ich signalisiere ihr mit einem Kopfschütteln, dass die Flucht keine gute Idee sei. 
Sie umarmt mich fest und lehnt ihren Kopf an meine Brust. Ich schließe die Augen. Für einen kurzen Moment konzentriere ich mich nur auf die Wärme, die ihr Körper ausstrahlt. 
Der Ignaeria bewegt sich mit langsamen Schritten. Ich wage es nicht, die Augen zu öffnen. Den Geräuschen nach zu urteilen, ist er sehr nahe. Es bleibt zu hoffen, dass er uns nicht bemerkt. Wir umarmen uns immer fester. Der Stoff von ihrem Kleid ist dünn. Es ist, als berühre ich ihre Haut. 
Meine Gefühle spielen verrückt. Todesangst gemischt mit einem Hauch von Liebe. Sekunden fühlen sich an wie Minuten. Ein Teil von mir verlangt, dass es endet – ein anderer, dass es nie wieder aufhört.
Der Ignaeria atmet tief ein und aus. Dadurch landet irgendetwas auf meinem rechten Arm. Es ist enorm heiß und brennt sich durch meine Klamotten. Mit aller Kraft unterdrücke ich den Schmerz und kneife meine Augen krampfartig zusammen. Die Kreatur setzt sich wieder in Bewegung und das Beben der Schritte wird leiser. 
Ich öffne die Augen. Der Ignaeria ist nicht mehr zu sehen. Hastig entferne ich den heißen Klumpen von meinem Arm. Er hinterlässt eine geringe Verbrennung.
»Haben wir es geschafft?«, fragt Anna. 
»Ich denke schon«, antworte ich und unsere Blicke treffen sich erneut.
Sie weicht einen Schritt zurück und lässt mich dabei los. 
»Tut mir leid, dass ich losrennen wollte. Ich hatte solche Angst und konnte mich nicht mehr kontrollieren«, entschuldigt sie sich und schaut dabei zu Boden. 
»Ach was, es ist ein Wunder, dass ich mich beherrschen konnte«, antworte ich. »Am Ende haben wir es überstanden. Stellux ist auf unserer Seite.«
Sie lächelt und dreht mit ihrem Zeigefinger Locken in ihr Haar. 
»Und es tut mir auch leid, dass ich dich so umklammert habe. Ich habe dich sicherlich wieder bedrängt«, fügt sie hinzu. 
»Ich fand es schön. Es hat mir geholfen, mich zu beruhigen«, antworte ich, ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht.
Für einen kurzen Moment weiß keiner, was er sagen soll. Gehe ich hin und umarme sie? Ist es das, worauf sie wartet? Ich merke schon wieder, wie die Nervosität in mir ansteigt. 
»Na gut«, unterbricht Anna die Stille, »wir sollten schnell aus dem Rauch heraus. Nochmal will ich dem Ignaeria nicht begegnen.«
Sie dreht sich um und macht eine Handbewegung, ihr zu folgen.
»Hopp, Hopp! Wir haben es eilig«, fordert sie mich auf.
Ich habe wieder den Moment verpasst. Verdammt! Ich denke zu lange darüber nach. 
Der Rest des Weges verläuft ohne Gefahren. Wir erreichen das Ende des Rauches und begeben uns auf den Rückweg zu Nika. Die Zeit drängt. Wir sind hoffentlich nicht zu spät.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Dorffest

Es ist abends. Die Nacht bricht herein. Das Dorffest beginnt jeden Moment. Anna und ich sind jetzt kurz vor Nikas Höhle. Wir sind den Weg von den Mastar-Ruinen so schnell wie möglich zurückgerannt. 
»Dort ist Nika! Ist sie verletzt?«, ruft Anna und eilt zum Höhleneingang.
Ich folge ihr. Nika sitzt auf dem Boden und wirkt geschwächt. Einige Tiere des Rudels sind bei ihr und leisten Beistand. 
Anna holt die Phiole aus ihrer Tasche und sagt: »Wir haben es geschafft! Wir haben das Wasser aus der Mastar-Quelle!«
Nika erhebt ihren Kopf und antwortet: »Ihr habt sie wirklich gefunden? Das ist ... unglaublich! Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass ich gerettet werde. Schnell, Kinder, schnell! Gebt mir das Wasser!«
Anna reicht Nika die Phiole. Dieses Mal trinkt sie das Wasser, anstatt es über ihre Wurzeln zu gießen. 
»Es wirkt! Ich fühle mich schon besser. Aber es wird eine Weile dauern, bis ich wieder vollständig bei Kräften bin. Wartet nicht darauf und eilt zum Dorf! Galvanna ist bereits hier. Der Wald sagt es mir. Ich spüre die Gefahr!«
»Sie sind hier?!«, frage ich. »Warum? Was wollen sie von unserem Dorf?«
»Dies ist nicht die Zeit für Fragen, Kinder«, antwortet Nika. »Ihr müsst sie warnen. Jetzt! Sonst ist euer Dorf für immer verloren. Glaubt mir! Ich werde zu euch stoßen, sobald ich meine Kräfte wiederhabe.«
Ich schaue Anna unsicher an. Sie nickt mir entschlossen zu und sagt: »Wir werden es schaffen! Los Noel! Auf zum Dorf!«
Zusammen verabschieden wir uns vorerst von Nika und eilen zurück. Die Füße sind schwer. Der Transport nach Istal und die Erlebnisse in den Ruinen kosteten viel Kraft. Ich höre die Stimme von Vater in meinem Kopf: »Reiß dich zusammen, Noel! Du bist ein Forstschlag!« 
Ich überwinde den Schmerz und wir erreichen die Kreuzung. Anna und ich halten einen kurzen Moment inne und holen tief Luft. Die Sonne spendet dem Wald nahezu kein Licht mehr. Umso verwunderlicher ist eine auffällig starke Lichtquelle am Ende des Valan-Pfades. Es kommt von dem Bereich, den wir noch nicht erforscht haben. Der Lichtschein bewegt sich schnell durch den Wald und schwenkt in die unterschiedlichsten Richtungen.
»Ist das Galvanna?«, frage ich Anna.
»Wir müssen uns beeilen«, sagt sie. Es ist ihr anzusehen, dass ihre Kraftreserven langsam ausgeschöpft sind.
Wir rennen weiter in Richtung Dorf. Aus der Ferne hören wir die Stimmen der Dorfbewohner. Der Dorfplatz ist mit Fackeln versehen und hell erleuchtet. Das Dorffest hat begonnen. 
»Wie gehen wir am besten vor?«, frage ich Anna. »Sie sind alle lautstark am feiern. Wie bekommen wir ihre Aufmerksamkeit?«
»Wir teilen uns auf und suchen unsere Väter. Sie glauben uns hoffentlich!«, antwortet sie, während wir die letzten Meter zum Dorfplatz eilen.
»Ok. So machen wir es!«, bestätige ich. Vater wird nicht begeistert sein. Besonders, wenn ich ihm erzähle, wie wir das Ganze erfahren haben.
»Ich besorge im Anschluss den Schlüssel von Valan und wir treffen uns an der Kirche, um Torwald zu befreien. Er wird uns bestimmt helfen«, fügt Anna hinzu.
»Los geht‘s!«, sage ich und wir laufen zu der Menge auf dem Dorfplatz. 
Es wird gelacht, getrunken und gefeiert. Die Geräusche und das geringe Licht erschweren es, Vater zu finden. Immer wieder drängele ich mich an Personen vorbei. Frau Hammelblatt winkt mir aus der Ferne zu.
Familie Weizenacker ist mit ihren Kindern aus Istal gekommen. Wolfgang tadelt Willy und Winfried, die sich um das Essen streiten. Wilhelmine versorgt die hungrigen und durstigen Mäuler an der langen Tafel. Mutter und Vater sind nicht unter ihnen. 
Ich halte kurz inne und schaue mich um. Anna ist nicht zu sehen. Ob sie Norbert oder Valan gefunden hat? 
Auf einmal ertönt ein Knall in der Ferne. Die Gemeinschaft scheint ihn nicht wahrgenommen zu haben. Die Geräuschkulisse ist zu laut. Ich bin mir sicher, dass er aus der Nähe unseres Hauses kam. Sind Vater und Mutter dort? Ist etwas passiert? Ich entferne mich von der Menge und renne zum Haus. Es scheint Licht. Kurz vor der Ankunft höre ich panisches Gekreische vom Dorfplatz. Ich drehe mich um und glaube nicht, was ich sehe. Es brennt! Der Rückweg ist von einer Flammenwand versperrt. Sind wir zu spät?
Gestalten tauchen in den Schatten auf und nähern sich dem Dorfplatz. Die Flammen versperren mir die Sicht. Es ist nichts genaues zu erkennen. Nur Schreie hallen durch die flackernde Nacht. Was passiert hier? Ich schließe die Augen. Das hat bei dem Ignaeria auch geholfen. Mit dem Unterschied, dass Anna nicht bei mir ist. Wo ist sie? Ich hoffe, sie hat Norbert und Valan früh genug gefunden und ist außer Gefahr. Was wollen diese Fremden? Ein Schrei unterbricht meine Gedankengänge! Es ist Mutter! Ich eile zur Tür und schleiche mich hinein. 
Der Eingangsbereich ist verwüstet. In der Mitte sind zwei unbekannte Männer mit seltsamer Kleidung. Sie tragen eine schwarze Rüstung um die Brust. Auf den ersten Blick ist es aber kein Metall oder Leder. Unter ihr sind ein dunkelgrünes Oberteil und eine Hose aus Stoff. An der Hüfte umringt sie ein dunkelblauer Gurt, der Platz für einige Gegenstände bietet. Ich sehe ein Messer. Die anderen sind mir unbekannt.
 Sie schauen in unsere Strohecke. Dort liegt Vater regungslos. Neben seiner rechten Hand liegt seine Axt Judy. Mutter umarmt ihn voller Tränen. Das Stroh hat sich rot gefärbt. Ist Vater etwa ...? Nein! Das Atmen fällt mir immer schwerer. Meine Hände zittern. Stehe ich unter Schock? Ich muss mich zusammenreißen. Mutter braucht meine Hilfe.
»Ich denk, der hätte mir fast den Kopf abgeschlagen«, gibt einer der fremden Männer von sich. Er ist an der rechten Schulter verwundet und blutet stark.
»Ich weiß, das wäre das Ende gewesen«, antwortet der Andere. »Lass uns das schnell erledigen, bevor dein Körper wird versagen.«
Er hält etwas Kleines in der Hand. Mit gestrecktem Arm richtet er es gegen meine Mutter. Ist das eine Waffe? Sie ist stumpf.
»Ich weiß, du solltest jetzt damit rausrücken, wo der Junge ist«, sagt er zu Mutter.
»Ich denk, sonst liegst du gleich neben deinem Liebsten, du vergisst!«, fügt der Zweite hinzu. 
Mutter schaut tränenüberströmt in die Augen der Fremden und sagt: »Ihr habt ihn getötet! Warum?! Ich dachte, es geht euch darum, dass wir helfen. Und was hat mein Sohn damit zu tun?«
In diesem Moment sieht mich Mutter an der Tür. Ich signalisiere ihr mit einem Zeigefinger am Mund, dass sie leise bleiben soll. Sie schüttelt den Kopf. Ich soll nicht eingreifen. Aber ich lasse sie nicht im Stich. Ich greife zu dem Messer, das mir Vater gegeben hat, und umklammere den Griff schweißgebadet. 
Die Unbekannten schauen sich gegenseitig an und ich gehe in Deckung, um nicht in ihr Sichtfeld zu geraten. 
»Ich denk, sie hat keine Ahnung wer wir wirklich sind«, unterhalten sie sich.
»Ich weiß, wir könnten es ihr sagen. Aber wir haben keine Zeit. Geschwind!«
»Ich denk, wenn der Feuerrote kommt, ist es mit diesen Körpern geschehen.«
»Ich weiß, wir sollten schnell gehen! Also sag schon, wo hast du den Jungen zuletzt gesehen?«
Mutter schaut erneut zu mir hinüber. Sie wirkt sehr besorgt. 
»Ihr werdet ihn nie bekommen. Stellux persönlich schützt seinen Pfad«, sagt sie und schließt dabei kurz ihre Augen.
»Ich denk, Stellux ist zu spät«, antwortet der Verwundete.
»Ich weiß, die Dunkelheit ist gesäät«, sagt der Zweite.
Ihre Sprache und ihre Mimik wirken unmenschlich. Wer sind diese Fremden? 
»Ich denk, sie wird es uns nicht sagen«, führen sie das Gespräch fort.
»Ich weiß, wir töten sie und suchen den Blagen«, sagt der Andere und fokussiert seinen Blick erneut auf Mutter.
Ich habe Angst. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und atme durch. Ich muss jetzt eingreifen, um Mutter zu retten. Einen Menschen zu verletzten ist ein großes Verbrechen. Ich hoffe, Stellux verzeiht mir diese Tat. Aber es ist ein Notfall!
Ich springe auf und ramme mein Messer in den Hals des Unbekannten. Mutter schreit auf: »Noel! Nein!« Es herrscht kurz Stille. Ich habe einen schmerzlichen Schrei erwartet; ein Zusammenbrechen seines Körpers. Stattdessen dreht sich sein Kopf in meine Richtung. Der Fremde grinst und starrt mich mit aufgerissenen Augen an. Sie schimmern in einem lila Licht.
»Gefunden!«, sagt er.
Ich bin wie gelähmt. Ein Treffer am Hals in dieser Tiefe sollte eine schwere Verletzung erzeugen. Anna hat mich sehr viel über die Anatomie des Menschen und seinen verwundbaren Stellen gelehrt. Sind diese Fremden etwa keine ... Menschen? 
Als ich einen Schritt zurückweiche, greift mich der zweite Fremde an den Armen. Er hat einen festen Griff und zieht sie hinter meinen Rücken, so dass jede Befreiung sinnlos erscheint.
»Ich denk, das ist er«, sagt er.
»Ich weiß, sein Tod muss her. Geschwind! Bevor mein Blut ist leer«, antwortet der Zweite, während ihm weiterhin mein Messer im Hals steckt. Das Blut fließt wie ein Wasserfall an seinem Körper entlang. Dennoch richtet er die unbekannte Waffe auf mich.
Ich schaue zu Mutter hinüber. Sie weint.
»Tut mir leid. Ich habe versagt«, sage ich und schließe meine Augen. 
Stille. Wir sind zu spät gekommen. Sind die Anderen bereits tot? Ist Anna vielleicht ...? Stellux ... Warum hast du uns nicht geholfen? Ich verstehe das nicht. Wir haben so viel durchgemacht und hatten unser Ziel fast erreicht. Warum endet es hier?
Ein Knall ertönt. Er ist so laut, dass meine Ohren schmerzen. Bin ich gestorben? Vor mir steht Mutter mit ausgestreckten Armen. Ihr Kleid saugt sich schwammartig mit Blut voll. 
»Es gibt immer Hoffnung. Egal wie dunkel es scheint. Das Licht verdrängt jede Dunkelheit. Glaube daran, mein Sohn«, sagt sie und fällt anschließend auf die Knie.
»Mutter! Nein! Warum hast du das getan!«, schreie ich und reiße mich von dem Fremden los, um sie zu umarmen. Er hatte seinen Griff kurzzeitig gelockert.
»Weil ich dich liebe«, flüstert sie mir mit ihren letzten Kräften in das Ohr. »Vertraue dem Feuer. Es leitet deinen Weg. Stellux hat es mir selbst gesagt.«
Ich spüre, wie ihre Lebenskraft entschwindet. Tränen schmücken meine Wangen. Schnodder sammelt sich in der Nase. Blut besudelt meine Hand. Sie ist tot. 
Mutter ist tot.
Die Fremden unterhalten sich: »Ich denk, sie hat sich geopfert.«
»Ich weiß, das ist diese Liebe, die ein Mensch im Kopf hat.«
Er mustert seine Waffe und führt die Unterhaltung fort: »Ich weiß, menschliche Waffen sind so schwächlich.«
»Ich denk, Schusswaffen sind so hässlich.«
»Ich weiß, Magie ist nicht so gebrechlich.«
»Ich denk, wir töten ihn damit und verschwinden.«
»Ich weiß, der Feuerrote wird uns nicht finden.«
Ich halte Mutter in meinen Armen. Sie ist regungslos. Sie ist tot. Ich fühle eine endlose Leere; einen Schwall schlagartiger Verzweiflung. Es ist, als ziehe sich eine Schlinge um meinen Hals. Diese Fremden haben in einem Augenblick alles zerstört; meine Eltern getötet. Mutter hat ihr Leben für mich geopfert. Warum? Wenn auch ich nun sterben werde? Ich schließe meine Augen und erinnere mich an die Worte von Mutter: »Es gibt immer Hoffnung.« Oh, Stellux ... beweise es!
Ein weiterer Knall ertönt. Er klingt nicht wie zuvor. Ich sehe mich um. Jemand hat unsere Tür eingetreten. Die Fremden schauen verdutzt. Ein Mann steht am Eingang. So groß, dass er sich duckt, um in das Haus zu kommen. Ich kenne ihn nicht. Wer ist das?

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Feuer

Ein Luftzug dringt durch die Tür. Es riecht verbrannt. Das Feuer hat sich im Dorf ausgebreitet. Außer dem Knistern des Holzes ist nichts mehr zu hören. Die Dorfbewohner sind verstummt. Die Sicht nach draußen ist durch einen großen Mann im Eingang versperrt. 
Sein Erscheinungsbild ist imposant. Er trägt eine rote, ärmellose Jacke. Sie ist so klein, dass sie seinen muskulösen Körper nur im Ansatz verdeckt. Seine Beine sind durch eine schwarze Hose ummantelt. Dazu trägt er einen braunen Gürtel. Der Verschluss zeigt ein goldenes Flammenemblem. 
 Der Fremde starrt uns mit strengem Blick an. Dabei sieht er sich auch die regungslosen Körper meiner Eltern an. Ich halte nur für einen kurzen Moment Blickkontakt mit ihm. Er ist furchteinflößend. Sein langes, gelocktes Haar verdeckt sein rechtes Ohr und Teile des Gesichtes. Er hat ein blaues und ein rotes Auge. Es kommt mir vor, als hätte ich in diese Augen schon einmal gesehen.
Über seinem Kopf ist ein Griff erkennbar. Sein Ende ist mit einem roten Edelstein geschmückt. Er trägt ein Schwert auf dem Rücken. Der Rest der Waffe ist nicht sichtbar. Seine Schultern und seine Statur sind dafür zu breit. Dem Griff nach zu urteilen, ist es ebenfalls sehr groß.
»Was ist hier geschehen?«, fragt er die Fremden. »Ich erwarte eine Meldung!«
Die Fremden zucken zusammen und antworten: »Ich denk, gefunden hat uns der Feuerrote!«
»Ich weiß, zu früh. Zu wenig Tote!«, sagt der Zweite. Er richtet seine Waffe erneut auf mich.
Ein neuer Knall ertönt. Reflexartig zucke ich zusammen und verkneife die Augen. Ich verspüre keinen Schmerz. Ich öffne sie wieder und sehe die Hand des Feuerroten. Sie versperrt nahezu mein komplettes Sichtfeld. 
Im nächsten Augenblick packt er den Fremden am Hals. Mein Messer fällt dabei zu Boden. Mit ausgestrecktem Arm hebt er ihn bis zur Decke. Der Fremde richtet seine Waffe auf ihn und abermals kommt es zu einem lauten Knall. Der Feuerrote bleibt unversehrt. Lediglich eine kleine Flamme erscheint an seinem Körper. Es ist, als verschlinge sie den Angriff.
Diese Art der Waffe ist mir ohnehin fremd. Mit den Fingern betätigt der Fremde einen Mechanismus und nach einem kurzen Knall und Funkenschlag kommt etwas hinaus. Das Geschoss bohrt sich in das Opfer, ähnlich wie ein Pfeil. Ich habe es bei meinen Eltern selbst gesehen. Es scheint keine Magie zu sein. Warum trifft es den Feuerroten nicht? Und warum bekämpfen sie sich überhaupt? Gehören sie nicht beide zu Galvanna?
»Ich denk, der Feuerrote hat es vereitelt«, sagt der andere Fremde. 
»Ich weiß, dass die Zeit fehlt!«, antwortet der Zweite im Würgegriff.
»Ihr habt meine Männer getötet und euch ihre Körper einverleibt. Ihr schleicht euch in unsere Reihen und überfallt eine wehrlose Familie. Ich sehe die Dunkelheit in euren Augen«, sagt der Feuerrote und greift sich dabei den zweiten Fremden, ebenfalls im Würgegriff. »Was haben Kreaturen der Dunkelheit an einem Ort wie diesem verloren?«
»Ich denk, er weiß es nicht«, sagt der Erste.
»Ich weiß, er denkt es nicht«, fügt der Zweite hinzu.
Der Feuerrote seufzt lautstark und sagt: »Warum rede ich überhaupt mit euch Narren? Ihr könnt euch sicher sein. Wenn ich eure wahren, jämmerlichen Gestalten finde, sorge ich dafür, dass ihr ein qualvolles Ende erleidet.«
»Ich denk, keine Frage, wir kommen wieder!«, sagt der Erste.
»Ich weiß, dann holen wir uns seine Glieder!«, erwidert der Zweite.
Mit einem Mal fangen die Fremden an zu brennen. Ein Hitzeschwall erreicht mein tränenüberzogenes Gesicht. Ich drehe meinen Kopf zur Seite. Der Feuerrote schleudert sie unter lautstarkem Geschrei aus dem Haus. 
Er ist jetzt mit dem Rücken zu mir gekehrt im Eingangsbereich. Die Schwertscheide ist vollständig sichtbar. Ich habe noch nie in der Schmiede von Norbert ein solches Schwert erblickt. Es ist so breit und lang, wie mein Körper selbst. Die Scheide ist schwarz und mit einer roten, flammenartigen Bemalung verziert. Bei dieser Größe muss es unglaublich schwer sein. Wie schwingt er ein solches Schwert? 
Der Feuerrote dreht sich zu mir um. Im Hintergrund brennen die Fremden weiter. Die Schreie sind verstummt. Er kniet sich vor mir nieder und schaut mir dabei tief in die Augen.
»Hallo Junge, darf ich fragen, wie du heißt?«, fragt er mich mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Ich schaue ihn an. Tränen fließen über meine Wangen. Es fühlt sich an wie ein Traum. Ich verstehe nicht, was hier passiert. Wie ist es dazu gekommen?
»Ihr habt sie alle getötet! Wieso?!«, fluche ich. »Geh weg! Ich bin allein. Ich bin für immer allein!«
»Da muss ich dir widersprechen, kleiner Mann«, erwidert er und fasst mir sanft auf die Schulter. »Ich bin schließlich hier und offenkundig beeindruckt von deiner Tapferkeit.«
Was passiert hier? Warum fühlt sich alles vertraut an? Ich habe das schon einmal erlebt. Dieses Gespräch ist mir bekannt. Ich erinnere mich.
Mit seinen verschieden gefärbten Augen mustert er mich genauer und sagt: »Ich heiße ...«
»... Vared Barhain«, vollende ich seine Vorstellung.
Er zieht mit geöffnetem Mund seine Augenbrauen hoch. Für einen kurzen Moment ist es ruhig. Ich habe Recht. Er ist es. Ich erinnere mich an ein Haus in meinem Traum. Er war dort ein kleiner Junge. Ich erinnere mich an seine Augen.
»Auch in der dunkelsten Stunde gibt es Licht«, beginne ich.
Bevor ich den Satz beende, unterbricht mich Vared und sagt: »Wenn man nur fest daran glaubt, kleiner Mann!«
»Wie ist das möglich? Du warst in meinem Traum. Jetzt stehst du hier? Träume ich wieder?«, frage ich.
»In deinen Träumen?«, grübelt er und schüttelt anschließend den Kopf. »Das ist kein Traum. Es tut mir Leid. Ich befürchte, deine Eltern sind wirklich tot.«
Kein Traum? Die Schreie und das Feuer? Es ist alles echt? Ich schaue auf die regungslosen Körper meiner Eltern. Sie sind blass und in Blut getränkt. Vater, Mutter, warum habt ihr mich verlassen? Ich breche erneut in Tränen aus und schluchze. 
Vared steht auf. Er schaut zu mir hinab und reicht mir die Hand.
»Du hast etwas Einzigartiges an dir«, sagt er. »So einzigartig, dass es die Dunkelheit in die Tiefen dieses Waldes geführt hat. Komm mit mir, kleiner Mann, und wir finden gemeinsam heraus, was es damit auf sich hat!«
»Wer waren diese Männer?«, frage ich. »Sie wirkten nicht wie Menschen.«
»Ich kann dir nicht genau sagen, ›was‹ sie waren«, antwortet Vared. »Aber ich kann dir versichern, dass sie wiederkommen. Deswegen empfehle ich dir, bei mir zu bleiben.«
Bei ihm? ›Vertraue dem Feuer. Es leitet deinen Weg.‹ Das hat Mutter zu mir gesagt. Meinte sie etwa ... ihn? Hat Stellux ihn geschickt? Er muss ihn geschickt haben.
Ich reiche ihm meine Hand und erhebe mich. 
»Was ist mit den anderen geschehen?«, frage ich.
»Sie warten am Ende der Lichtung«, antwortet Vared.
»Warum? Was habt ihr vor? Weshalb das Feuer?«, ergänze ich.
»Du stellst viele Fragen, kleiner Mann«, erwidert er. »Die Zeit dieser Siedlung ist vorüber. Sie wurde geduldet ... bis zum heutigen Tag. Ich kann dir nicht sagen, wieso. Ich weiß es selbst nicht; es interessiert mich auch nicht. Mein Auftrag ist es, diese Stätte mit meiner Einheit niederzubrennen und euch sicher nach Galvanna zu bringen. Also kommst du?«
Er begibt sich nach draußen und hält seinen rechten Arm an den Eingang des Hauses. 
»Ich werde deinen Eltern die letze Ehre erweisen«, fügt er hinzu. »Es wird ihr Grab werden.«
Ich schaue mich noch einmal um. Mutter, Vater, wusstet ihr, dass dies geschieht? Wieso habt ihr mir nie etwas gesagt? Warum musstet ihr mir immer alles verschweigen? Ich hebe das Messer von Vater auf und folge Vared zum Ausgang. Meine Beine fühlen sich schwer an. Ich bin erschöpft.
»Du kannst Feuer erschaffen, oder?«, frage ich verdutzt. »Bist du überhaupt ein Mensch?«
Vared lacht und antwortet: »Ich bin ein Mensch, keine Sorge. Du lebst schon dein ganzes Leben in diesem Dorf, oder? Es gibt viel, dass du nicht weißt.«
»Das stimmt!«, erwidere ich. »Meine Eltern haben uns nie davon erzählt, was sich hinter dem Wald befindet. Wir sollten es erst erfahren, wenn wir achtzehn Jahre alt sind.«
Vared hebt skeptisch seine Augenbrauen und sagt: »Ihr seid ein komischer Haufen. Ich habe diese ganze Brenshar-Gemeinde nie verstanden. Aber das hat jetzt sowieso ein Ende.«
Er entzündet das Haus. Nach und nach breiten sich die Flammen aus. Seine Hand lässt er im Feuer. Sie bleibt unversehrt. 
»Wie ist das möglich? Warum verbrennst du dich nicht? Ist das etwa ›Magie‹?«, frage ich.
»Du kennst Magie? Du bist wirklich ein besonderer kleiner Mann. Ich beherrsche die Magie. Sie ist mein Fluch und Segen. Aber Menschen sind normalerweise nicht in der Lage, Magie zu wirken. Es gibt nur wenige Ausnahmen. Aber das ist für den Moment eine zu lange Geschichte«, antwortet er.
Das Feuer hat das ganze Haus verschlungen. Ich denke an Mutter und Vater. Es ist meine Schuld, dass sie gestorben sind. Wäre ich nur früher im Dorf angekommen, um sie zu warnen.
Die Hitze ist unerträglich. Ich gehe einige Schritte zurück und drehe mich um. Die anderen Flammen aus dem Dorf sind erloschen. Ich erhasche die verbrannten Kadaver der beiden Fremden. Sie liegen wenige Meter vor mir. Viele Häuser sind zu Asche verfallen. Warum verbrennen sie alles, was wir aufgebaut haben? Ich verstehe das nicht. Von den anderen Dorfbewohnern ist keine Spur. Wo bist du, Anna?
»Ich sehe niemanden mehr. Sagtest du nicht, sie sind am Ende der Lichtung?«, frage ich.
Vared rückt zu mir auf und schaut sich ebenfalls um.
»Du hast Recht«, sagt er. »Das ist verdächtig.«
In der Ferne erscheint plötzlich ein Schatten. Er bewegt sich sehr schnell. Die Geschwindigkeit ist unmenschlich.
»Da kommt etwas!«, rufe ich und greife nach meinem Messer. 
Was auch immer dort auf uns zukommt. Es hält mich nicht davon ab, Anna zu finden. Ich lasse sie nicht im Stich.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Verrat

Es ist Nacht. Die Luft riecht verbrannt. Der Himmel ist stark bewölkt. Die restlichen Flammen sind die einzige Lichtquelle.
Vared, der Feuerrote, steht neben mir. In der Ferne ist ein Schatten. Er bewegt sich mit rasender Geschwindigkeit auf uns zu. Ich bin kampfbereit.
»Lass gut sein«, sagt Vared und streckt seine Hand vor mir aus. »Das ist keine Bedrohung.«
»Was ist es dann?«, frage ich.
Bevor er die Frage beantwortet, hat es uns erreicht. Ich bin überrascht. Es ist ein Mensch. Ein Mädchen mit blau schimmerndem langem Haar. Sie kniet sich vor Vared nieder und sagt: »Kommandant! Ich habe alles versucht. Oskar hat nicht auf mich gehört!«
Das Mädchen ist aus der Puste und wirkt aufgewühlt. Sie hat einen Zopf im Haar und trägt ein ärmelloses Oberteil. Es ist zu kurz, wodurch der Bauch sichtbar ist. Weiterhin verziert ein knielanger Rock ihre sportlichen Beine. Sie ist schlank. Um die Hüften hat sie einen Gurt mit einer Schwertscheide. Es ist ein leicht gebogenes Schwert. Ich vermute, eine Art Krummschwert. Norbert hat diese Form in seiner Schmiede. 
Unsere Blicke kreuzen sich. Sie ist jung. Ich nehme an, maximal vier Jahre älter als Anna und ich.
»Wer ist das?«, fragt sie verwundert. Sie schaut sich um und erblickt die verbrannten Leichen der anderen Fremden. »Was ist hier geschehen?«
»Tja, hätte besser enden können«, antwortet Vared und fasst sich dabei mit seinen Händen hinter den Kopf. »Der kleine Mann hat gerade seine Eltern verloren. Er ist ein Code S und in deiner Obhut. Verstanden, Malnada?«
Das Mädchen hebt eine ihrer Augenbrauen an und schaut erneut zu mir.
»Ist das ihr ernst, Kommandant? Code S?«, fragt sie.
»Mir ist heute nicht nach Scherzen«, erwidert Vared ernst und schlendert ein paar Schritte vor. »Kann ich auf dich zählen, Malnada?«
»Natürlich!«, antwortet sie, erhebt sich und reicht mir die Hand.
»Hallo! Mein Name ist Mira Malnada! Und wie heißt du?«, fragt sie.
 Ich stehe einen kurzen Moment neben mir. Die Anspannung ist noch da. Mir fällt es schwer, alles zu verarbeiten. Sind diese Fremden tatsächlich Freunde? Sie haben unsere ganze Heimat zerstört.
Ich vertraue Mutter. Stellux hat zu ihr gesprochen. Er begleitet meinen Weg. Ich hoffe, dass Anna bei den Anderen ist.
»Hey! Alles ok bei dir?«, fragt Mira lächelnd. Sie neigt ihren Kopf zur Seite. »Das mit deinen Eltern ist schlimm. Du hast mein Mitleid! Wenn es dich tröstet: Ich habe auch keine Eltern mehr.«
»Oh, wirklich? Mein Name ist Noel. Noel Forstschlag«, antworte ich und reiche ihr die Hand. »Woran sind sie gestorben?«
»Das weiß ich leider nicht«, sagt sie und schaut betrübt. »Ehrlich gesagt, hatte ich nie welche.«
»Trödelt nicht! Wir schließen schnell zur Gruppe auf. Es ist schon genug schief gelaufen!«, hallt es aus der Ferne. Vared ist längst weitergegangen und winkt uns zu sich.
»Jawohl, Herr Kommandant«, antwortet Mira direkt und zieht mich ruckartig hinter ihr her.
 Ich versuche, ihr Tempo zu halten. Eine gute Gelegenheit ein paar Fragen zu stellen.
»Was ist ein Code S?«, frage ich.
»Code S ist eine Form von Personenschutz«, erwidert sie. »S zeigt an, wie wichtig die Person ist.«
»Warum hat dich Code S überrascht? Wie wichtig bin ich?«, frage ich.
Mira neigt ihren Kopf leicht zu Boden. Sie hebt ihre Augenbrauen und schaut zu mir.
»S ist die höchste Stufe«, sagt sie. »Kurz gesagt: Dein Leben ist wichtiger, als meins.«
Ich bin überrascht. Warum soll sie mich mit ihrem Leben beschützen?
»Was habt ihr mit uns vor?«, frage ich.
»Wir bringen euch nach Galvanna«, antwortet Mira. »Es gab, soweit ich weiß, Ärger mit dem Hexagon.«
»Dem Hexagon? Was ist das schon wieder?«, erwidere ich.
Mira lacht und sagt: »Ich befürchte, dir wurde nicht so viel über Galvanna erzählt, oder?«
»Nein«, sage ich mit einem Seufzer. »Liegt Galvanna auch im Wald?«
»Du bist witzig«, erwidert sie. »Vor einigen Jahren ging es mir genauso wie dir. Komplett ahnungslos und überfordert von der Außenwelt. Nur, dass ich nicht in einem Wald gelebt habe, sondern in einem Labor.«
»Ein Labor? Was ist das für ein Ort?«, antworte ich.
Plötzlich halten wir an. Vared steht regungslos vor uns. Mira macht es ihm nach. Für einen kurzen Moment herrscht eine bedrückende Stille. Es ist stockdunkel. 
»Ähm, warum halten wir an?«, frage ich verwirrt.
»Psst! Ruhig!«, antwortet Vared erbost. »Hör doch.«
Ich horche in den Wald hinein. Es knackt Holz in der Ferne. Hier und dort raschelt es in den Büschen. Ist das nicht normal im Wald?
Doch dann merke ich, was Vared und Mira gehört haben. Schreie. Sie sind weit in der Ferne. Ein Knall ertönt; gefolgt von einem Zweiten.
»Auf was schießen sie?«, fragt Mira. Sie wirkt beunruhigt. »Verdammt! Oskar hätte einfach warten sollen!«
Vared seufzt und kratzt sich am Kopf. 
»Warum kann es nicht einmal so laufen, wie geplant?«, sagt er. »Eiltempo! Ich habe heute schon genug Leute verloren!«
Der Feuerrote rennt los. Mira packt meine Hand mit einem festen Griff.
»Gut festhalten!«, sagt sie. »Wir müssen uns beeilen.«
Bevor ich reagiere, reißt sie mich mit. Durch die hohe Geschwindigkeit fällt es mir schwer, aktiv zu rennen. Es ist, als schleife sie mich hinter ihr her. Ich halte mit aller Kraft ihre Hand fest. Wir brauchen einen Moment, um näher an das Geschehen heranzukommen.
Wenig später halten Vared und Mira an. Wir haben mittlerweile die Kreuzung am Valan-Pfad hinter uns gelassen. Es ist wieder still. Die Schreie sind verstummt. Mira geht einen Schritt vor und sieht sich um. 
»Wo sind denn alle?«, fragt sie und holt etwas aus ihrem Gürtel. Es ist ein kleiner, rechteckiger Gegenstand. Sie drückt auf ihn und es erscheint ein Lichtschein. Ist das wieder Magie?
»Nein! Nein!«, ruft Mira. Sie schluchzt. »Wie ist das möglich? Was ist hier geschehen?«
Ich frage mich kurz, was sie meint, doch dann sehe ich, worauf sie mit dem Licht zeigt. Dort liegt jemand am Boden. Nein! Nicht jemand ... Es ist Valan ... Valan Brenshar; besudelt mit Blut und voller Bisswunden. Er ist tot. Ich folge dem Lichtschein und er deckt noch weitere Opfer auf. Sie liegen alle regungslos am Boden. Einige davon sind aus Valan. Andere sind mir fremd. Sie haben Ähnlichkeit mit den Fremden, die Vater und Mutter getötet haben. 
»Verdammt! Oskar, wo steckst du? Scheiße!«, flucht Mira und leuchtet panisch durch den Wald.
Ich denke nicht weiter nach und renne ebenfalls los. Mein Herz schlägt immer schneller. Ich bekomme Schweißausbrüche.
»Anna! Wo bist du? Sag doch was!«, rufe ich in die Nacht. Ich ziehe das Messer von Vater. Überall sind Leichen. Frau Hammelblatt, Familie Weizenacker, sogar Willy und Winfried! Ich erkenne sie alle wieder. Ihre Gesichter sind erstarrt vor Angst. Welche Grausamkeit war hier am Werk. 
»Anna! Oskar!«, hallt es immer wieder durch den Wald. Sie sind nicht auffindbar. Es sind so viele Leichen. Teilweise sind sie fürchterlich entstellt. Die Suche wird hektischer, bis eine laute Stimme ertönt.
»RUHE!«, ruft Vared in den Wald hinein.
Mira zuckt zusammen. Ihr Gesicht ist voller Tränen. Der Lichtstrahl zittert. Sie kann ihre Hände nicht ruhig halten. 
»Malnada! Konzentrier dich und mach das Licht aus!«, fordert Vared sie auf. 
Mira nimmt den Gegenstand in beide Hände, um der Aufforderung nachzugehen. Er fällt zu Boden. 
»Scheiße!«, flucht sie erneut und hebt ihn auf.
Im nächsten Moment erlischt das Licht und ich höre Mira tief durchatmen. 
Vared ist dabei zu uns aufgeschlossen und sagt: »Ich zähle jetzt bis drei. Danach nimmst du dir den kleinen Mann und verschwindest von hier, verstanden?«
»Ok«, antwortet sie mit heller Stimme und schluchzt einige Male.
»Gut«, erwidert Vared. Seine Stimme wirkt beruhigend.
»Ich muss Anna finden! Ich kann hier nicht weg!«, widerspreche ich.
»Hier lebt niemand mehr«, sagt Vared emotionslos. »Wenn du Glück hast, ist sie entkommen.«
»Dann muss ich suchen! Dafür brauche ich Licht!«, sage ich.
»Sei kein Narr!«, antwortet Vared. Seine Stimme klingt noch ernster als sonst. »Schau dich um! Wir haben gerade andere Sorgen!«
Ich sehe mich um. Er hat recht. Mira und ich waren so versteift darauf die Leichen zu untersuchen. Wir haben nicht bemerkt, dass wir beobachtet werden. Überall in der Dunkelheit sind leuchtende, grüne Augen zu erkennen. Sie bewegen sich auf uns zu. 
»Was ist das?«, frage ich.
»Wölfe«, antwortet Vared.
»Unsere Einheit hätte niemals gegen ein Rudel Wölfe verloren!«, fügt Mira hinzu. »Schon gar nicht Oskar!« 
»Wir haben keine Zeit für Diskussionen«, bricht Vared ab.
»EINS!«, ruft er durch den Wald.
Mira ertastet meinen Arm und greift erneut meine Hand mit einem festen Griff. An den Füßen von Vared entstehen kleine Flammen.
»Wir müssen hier weg«, sagt Mira und schaut zu mir.
»Was hat er vor?«, frage ich.
»ZWEI!«, hallt es durch den Wald.
»Ich befürchte, er ist sauer«, antwortet Mira. »Er kümmert sich um die Wölfe.«
Vared ist vollständig in Flammen gehüllt. Die Hitze wird unerträglich. Er zieht sein riesiges Schwert aus der Scheide und hält es, mit der Spitze nach unten, vor sich fest. 
Die Wölfe sind jetzt klar sichtbar. Es sind sehr viele. Kann es sein, dass diese Wölfe ...
»DREI!«, schreit Vared und unterbricht meine Gedanken.
Im nächsten Augenblick rennt Mira los. Ruckartig schleift sie mich mit. Mein Arm schmerzt. Sie ist noch schneller als vorhin, so dass ich durch den Zug durch die Luft fliege.
Ich schaue zurück. Vared rammt sein Schwert in den Boden und die Erde bebt. Ein Feuer bricht rasend in alle Richtungen aus. Der Wald ist hell erleuchtet. Einige Wölfe jaulen, während ihr Fell in Flammen aufgeht. Sie rollen sich auf dem Boden, um dem Tod zu entgehen. Andere weichen den Feuerwällen aus und haben ihre Beute fast erreicht. Mit geballten Fäusten bereitet sich der Feuerrote auf einen Kampf mit dem Rudel vor. 
Plötzlich lässt Mira meine Hand los und ich werde nach vorn geschleudert. Mit einem harten Aufschlag fallen wir beide zu Boden.
»Au! Verdammt! Was ist passiert?«, frage ich und schaue zu ihr hinüber.
Sie starrt auf etwas. Sie starrt so sehr, dass sie meine Frage nicht wahrnimmt.
»Das ... das kann nicht sein!«, wimmert sie.
Tränen fließen über ihre Wangen. Sie weint. Ich schaue mich um. Neben uns ist eine Ansammlung von Wurzeln, die aus der Erde ragen. Sie sind unnatürlich gewachsen. Als ich genauer hinsehe, verstehe ich, was sie erschüttert. Sie sind nicht ohne Grund aus dem Boden gekommen. Sie haben jemanden durchbohrt: einen Mann. Er steht aufrecht und hält eine spitze Stabwaffe in der Hand. An ihrem Ende ist ein Beil befestigt. Ist das ... Oskar?
Mira steht auf und rennt zu ihm. Sie berührt eine der Wurzeln mit der offenen Hand und schaut mit geschlossenen Augen hinab.
»Du Vollidiot! Du verdammter Vollidiot!«, flucht sie. »Was fällt dir ein, in diesem verfluchten Wald zu sterben! Warum hast du nicht einfach gewartet!«
Sie sinkt auf ihre Knie. Ihre Atmung ist schnell. Es ist ihr anzusehen, dass sie mit ihrer Trauer kämpft. Sie versucht, sie zu unterdrücken.
Auch ich verliere Tränen. Ich habe gedacht, dass es nicht schlimmer wird. Dass Stellux wieder auf unserer Seite ist. Dass ich Anna finde, und wir endlich das erreichen, nachdem wir uns schon so lange sehnen. Doch jetzt sind sie alle tot und Anna ist spurlos verschwunden. Gejagt von einem Rudel Wölfe oder unnatürlichen Wurzeln. Moment, Wurzeln? Wölfe? Das ... das kann nicht sein!
»Ein wahrlich hochmütiges Menschlein«, erklingt es aus den Schatten.
Mira zuckt zusammen und steht schlagartig auf. Sie hat ihre Hand an ihrem Schwertgriff und schaut aufmerksam in den Wald. Ich versuche, eine Gestalt zu erkennen, eine Bestätigung zu finden, dass ich mich mit meiner Vermutung irre.
»Wer ist da? Zeig dich!«, ruft Mira mit ernster Miene.
Dann erscheint sie. Eine weibliche Gestalt, versteckt in einer Kutte, dringt aus den Schatten. Ich kenne diese Kutte. Es besteht kein Zweifel. Es ist Nika.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Hass

In der Ferne ist der Wald von loderndem Licht erhellt. Vared ist dabei, sich gegen eine schier nie endende Horde von Wölfen zu wehren. Mira steht angespannt und bewaffnet neben ihrem toten Kameraden. Ihr Blick richtet sich an Nika, die aus den Schatten erscheint. 
Ich erhebe mich vom Boden und ergreife das Wort: »Das ist nicht wahr! Sag mir nicht, dass du dafür verantwortlich bist?!«
Nika schaut zu mir und befreit ihren Körper von der Kutte. Sie sieht viel jünger aus. Ihre schlanke Figur ähnelt einer zarten Frau. Die grüne Haut ist geschmückt von leuchtenden blauen Blüten und schimmernden Blättern. Sie verdecken gerade mal das Nötigste.
»Siehst du es nicht, Noel«, antwortet sie und nähert sich mir mit geschmeidigen Schritten. »Ich habe es für dich getan. Ich habe dich befreit.«
»Befreit? Du hast sie alle umgebracht! Valan ... Frau Hammelblatt ... Familie Weizenacker ... sogar ihre Kinder!«, schreie ich sie an. »Und Anna? Wo ist Anna?! Hast du sie etwa auch getötet?«
Während die Verzweiflung in mir gedeiht, spüre ich wie Tränen aus meinen Augen sprießen. 
»Wir haben dich gerettet, damit du uns hilfst! Damit du unser Dorf und unsere Familien schützt! Nicht um uns noch mehr Unheil zu bringen!«, füge ich hinzu.
Nika steht jetzt vor mir. Ich schaue ihr tief in die Augen. Sie leuchten grünlich.
»Diese Menschen haben dir alles verwährt. Sie haben dich in diesem Dorf in Ketten gehalten. Ich habe dir nur deinen größten Wunsch erfüllt. Das getan, wofür du keine Kraft hattest«, erwidert sie. Ihre Stimme wird zorniger. »Ihr tot war notwendig! Du siehst es nicht ... aber Menschen sind abartig! Sie haben keinen Respekt vor der Natur – leben nicht mit ihr im Einklang. Im Gegenteil. Sie ist nur ein Mittel zum Zweck! Schau nur, wie der Wald brennt. Wie er schreit!«
Sie zeigt auf die Flammen in der Ferne, schaut kurz trauernd auf den Boden und richtet sich mir erneut zu. Sie lächelt.
»Als ich dich und deine kleine Freundin sah, hatte ich neue Hoffnung. Ihr seid unbefleckt. Eine neue Saat für die Menschen. Deswegen helfe ich euch«, erklärt sie sich.
»Anna! Wo ist Anna?! Und wo ist Torwald? Was hast du mit ihnen gemacht?«, frage ich fordernd.
»Mein liebster Torwald«, ihr Blick ist schlagartig wuterfüllt, »er hat die Notwendigkeit nicht verstanden.«
Nika macht einige sanfte Handbewegungen. In der Ferne entsteht ein Kranz aus leuchtenden Blüten. Sie offenbaren eine große Pflanze. Im schleimigen Inneren ist Torwald zu sehen.
»Er wollte mich aufhalten!«, führt sie fort. »Er ist ein Narr und versteht es nicht. Aber ich verzeihe ihm. Diese Pflanze wird ihn mir näher bringen, als je zuvor. Er wird als neues, besseres Wesen erwachen.«
»Und Anna ...?«, hake ich nach.
»Sie ist unversehrt. Keine Sorge«, antwortet sie.
Sie lebt! Erleichtert breche ich in Tränen aus. Anna! Ich muss zu ihr!
»Wo ist sie?«, frage ich.
»Ich habe sie zu einem alten Freund von mir geführt. Sie ähnelt jemandem, weißt du? Er wird sich freuen, sie bei sich zu haben«, erwidert Nika.
»Einem Freund? Wem?«, frage ich weiter nach. »Nika! Ich muss zu ihr!«
»Nika? So wie Nihidakka?«, unterbricht uns Mira auf einmal. »Du bist es also wirklich!«
Ich hatte sie fast vergessen. Sie steht mit gezogenem Schwert einige Meter von uns entfernt und hat alles mit angehört. Nika dreht sich zu ihr.
»Ihr kennt euch?«, reagiere ich verwundert.
»Nihidakka Aldikki, die Treulose«, sagt Mira mit hasserfülltem Blick. »Ich habe schon Geschichten von ihr gehört. Sie ist die berühmteste und älteste Dryade. Seit fast 500 Jahren weilt sie auf dieser Welt. Sie sollte viel älter aussehen ... wie ist das möglich?«
»Wir haben sie gerettet«, erkläre ich. »Wir haben ihr ein Verjüngungswasser von der Mastar-Quelle gebracht.«
»Ihr habt was?«, reagiert Mira geschockt. »Diese Dryade ist eine Mörderin! Sie ist vollkommen wahnsinnig! Schau nur, was ihr angerichtet habt!«
Mira hebt ihre Hand und dreht sich kurz zu ihrem toten Kameraden um.
»Dieses Dorf hat sie an sich selbst erinnert. Es hat sich alles wiederholt! Sie hat sie alle abgeschlachtet, wie Vieh!«, führt sie lautstark fort. »Die Geschichten von ihr handeln von dem Mastar-Massaker! Hier! In diesem Wald! Ganz in der Nähe! Vor Jahrhunderten von Jahren! Eine kleine junge Dryade, der es nicht erlaubt war, ihre Heimat zu verlassen. Hasserfüllt hat sie ihre ganze Familie umgebracht. Sie hat alle mit einem Gift hinterlistig geschwächt und getötet. Seitdem irrt sie durch unsere Welt, vollkommen allein, gehasst und verabscheut von ihrem Volk.«
»Stimmt das?«, frage ich Nika.
Es herrscht kurz Stille. Im Hintergrund sind die Flammen zu sehen. Vared ist nicht auffindbar. 
»Ihr ... tot ... war ... notwendig«, antwortet Nika. Sie dreht sich zu mir. »Noel, du verstehst es, oder? Diese ewige Gefangenschaft. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Die Welt hat auf mich gewartet. Ich wollte sie alle sehen. Die Bäume. Die Blumen. Die Tiere. Sie riefen nach mir.
»Nein!«, erwidere ich mit ernster Miene. »Ziele und Wünsche dürfen niemals von einem Besitz ergreifen. Sie nähren sonst die Dunkelheit. Wenn du, um sie zu erreichen, anderen Leid bringst, ist es nicht der richtige Weg. Das hat Stellux mich gelehrt! Du irrst dich, Nika! Mira hat recht. Du bist wahnsinnig! Und ich habe dir vertraut ...«
Nika schaut mich verwundert an und sagt: »Ich hätte gedacht, dass du es verstehst. Wir ähneln uns doch so. Bedauerlich. Stellux hat deinen Verstand vergiftet.«
»Der einzig vergiftete Geist hier, bist du«, antwortet Mira.
 Ihre Stimme klingt noch ernster als zuvor. »Du hast so viele wehrlose Menschen getötet. Das ist unverzeihlich.«
Mira sieht zu Oskar und sagt: »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, ihn zu töten, aber ich werde sicher nicht verlieren!«
Sie streckt ihren Arm, samt Schwert, zur rechten Seite aus. »Wir haben genug geredet. Ich werde diesen Wahnsinn jetzt beenden und diese Welt von dir befreien.«
»Erneut spricht der Hochmut eines Menschlein«, antwortet Nika mit sanfter Stimme. 
»Warte, Mira!«, rufe ich dazwischen. »Ich muss wissen, wo Anna ist!«
»Wir finden sie schon!«, versucht Mira mich zu beruhigen, während sie ihr Gewicht auf den vorderen Fuß verlagert und das Schwert über ihrem Kopf positioniert.
 Nika schaut mich lächelnd an und sagt: »Keine Sorge, Noel. Durch die Mastar-Quelle habe ich alle meine Kräfte zurückgewonnen. Ein einfacher Mensch ist keine Gefahr für mich. Besonders nicht in diesem Wald.«
Hätten wir ihr bloß nicht diese Phiole gebracht. Dann würden sie alle noch leben. Verdammt! Aber für Reue ist es zu spät. Vermutlich hat Mira recht. Sie ist zu gefährlich, um sie gehen lassen. Doch wie finde ich heraus, wo Anna ist?
Als Nika sich wieder ihrer Kontrahentin widmet, ertönt ein lautes Geräusch und Mira schnellt nach vorn. In Sekunden steht sie bereits vor Nika und hat ihr die Klinge in die Brust gerammt.
Mira starrt Nika dabei voller Hass an und sagt: »Ich sagte, genug geredet!«
Die Dryade gibt ein schmerzliches Stöhnen von sich und ihre Augen sind weit aufgerissen. Das hat sie wohl nicht erwartet. Aus der Wunde fließt ununterbrochen eine grüne Flüssigkeit ihren Körper entlang. 
Blitzartig bewegt sich etwas an Mira’s Füßen. Es sind Wurzeln!
»Mira! Pass auf!«, warne ich sie.
Sie schaut zu Boden und weicht im letzten Moment zur Seite aus, bevor die Falle zuschnappt. Ihr Schwert bleibt in der Dryade stecken.
»Scheiße! Das war knapp«, flucht sie. Ihr Blick ist bei Nika. »Warst du das? Du solltest durch den Hieb schwer verletzt sein!« 
Nika lächelt und sagt: »Habe ich es nicht gesagt? Du kannst mir nichts anhaben. Egal, wie schnell du auch sein magst.«
Sie zieht das Schwert aus ihrer Brust und die Wunde wird von schnell wachsenden Rinden verschlossen. 
»Ein Mensch sollte nicht in der Lage sein, einen Geschwindigkeitszauber zu wirken«, führt sie fort. »Sag mir, Mädchen, warum beherrscht du diese Magie?«
Nika wirft die Waffe Mira vor die Füße und schaut sie fragend an.
»Das geht dich nichts an!«, antwortet Mira, während sie ihr Schwert aufhebt und erneut eine Kampfhaltung einnimmt. »Glaub ja nicht, dass ich schon aufgebe! Ich schneide dich einfach in Stücke. Da hilft dir keine Regeneration!«
Sie versucht einen zweiten Angriff. Nika reagiert zeitig und eine Wurzel peitscht in Miras Richtung. Sie weicht aus, bricht den Angriff aber ab. Die Dryade gibt ihr keine Luft zur Erholung und schleudert ihr weitere Hiebe entgegen, während sie entspannt auf der Stelle steht und ihre Arme seicht bewegt.
Nach kurzer Zeit wagt Mira eine aggressivere Strategie. Sie schneidet sich nach und nach durch die heranschnellenden Wurzeln. Es funktioniert! Sekunden später erreicht sie Nika und trennt ihr einen Arm ab. Mit Kampfschreien schlitzt sie die Dryade in unmenschlicher Geschwindigkeit auf, bis sie ihr am Ende den Kopf abschlägt. Der restliche Körper fällt schlagartig zu Boden.
»Ja! Ha! Von wegen unbesiegbar!«, schreit Mira erleichtert und bricht erschöpft zusammen. »Das war für Oskar!«
»Wow!«, sage ich erstaunt. »Das war unglaublich!«
Mira schaut zu mir rüber und antwortet mit einem Lächeln: »Ach was! Das war noch gar nix!«
Sie hebt ihre geballte Hand in die Luft und streckt den Daumen aus.
»Jetzt suchen wir das Mädchen und den Kommandant und verschwinden hier«, fügt sie hinzu.
»Und Torwald!«, ergänze ich und drehe mich um.
Er ist noch immer in der Pflanze gefangen. Der Zauber ist nicht erloschen. Moment! Heißt das ...?
»Was zum ... Scheiße!«, ruft Mira hinter mir.
Ich drehe mich sofort um. Sie ist an Wurzeln gefesselt und bewegungsunfähig. Dabei wird sie in die Luft gehoben. Nika lebt! Ich beobachte, wie sich ihre einzelnen Teile wieder zusammensetzen. Es dauert nur Sekunden!
»Du verstehst es nicht«, sagt sie und schaut Mira dabei an. 
Eine strahlende, große blaue Blüte erscheint unter ihr und sie setzt sich hinein. Die Nacht erstrahlt in ihrem Licht. Ich schaue mich hilfesuchend um. Im Augenwinkel entdecke ich Norbert in der Ferne. Er liegt blutend und verletzt an einem Baum. Ist er am Leben? Ich muss zu ihm, aber Mira benötigt auch meine Hilfe. Sie versucht vergeblich, sich aus ihren Fesseln zu befreien.
Nika liegt in der Blüte und führt ihre Ansprache fort: »Dieser Wald ist mein Zuhause. Ich bin eins mit ihm. Solange ein Teil von mir besteht, sind wir verbunden.«
»Verdammte Scheiße!«, flucht Mira erneut. Ihre Atmung ist schnell. Sie ist in Panik. »Ich will hier nicht sterben.«
Mit gestreckten Händen und Beinen hängt Mira in der Luft. Die Wurzeln ziehen sie auseinander. 
»Keine Sorge«, antwortet Nika, »gleich ist es vorbei.«
»Nika, hör auf damit!«, rufe ich ihr zu. »Es gibt schon genug Opfer!«
»Es ist notwendig, Noel«, erwidert sie.
Mit gezogenem Messer wage ich mich vor. Ich versuche, die Wurzel zu zertrennen. Sie ist sehr dick. Es dauert zu lange!
»Es ist zwecklos«, sagt Nika. »Du brauchst weitaus mehr, als ein Messer, um mich aufzuhalten.«
Plötzlich schnellt eine Flammenwand auf das Geschehen zu. Nika schreit panisch auf und flüchtet mit ihrer Blüte in Sicherheit. Mit einem wuchtigen Hieb trennt ein Schwert die Wurzeln hindurch. Es erinnert mich an Vater, wenn er wieder mit einem Schlag Holzstücke zertrennt. Das hat er nur mit seiner Lieblingsaxt Judy geschafft.
Aber nicht Vater hat uns gerettet. Es ist Vared. Er hält in einer Hand sein Schwert, während er mit der anderen Mira auffängt.
»Du meinst sowas, Pflanzenmädchen?«, fragt er spöttisch.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Mann

Die Flammen sind fast erloschen. Vared hat sie mit seiner Magie eingedämmt, um dem Wald nicht mehr zu schaden, als notwendig. Er steht Nika gegenüber, die sich schützend in ihre Blüte zurückgezogen hat. Mira sitzt auf den Boden und verarbeitet das Nahtoderlebnis.
»Ich entschuldige mich für die Verspätung. Dieses Rudel war ziemlich lästig«, sagt Vared und massiert sich die Schulter. »Mein Rücken macht mir auch wieder zu schaffen.«
Wie hat er alle Wölfe ohne einen Kratzer überlebt? Seine Kleidung und Haut ist unversehrt.
»Ich habe versagt«, wimmert Mira. »Ich habe verloren.«
»Du warst, wie immer, zu überheblich und zu stürmisch. Im Kampf zählt Konzentration. Deine Emotionen halten dich davon ab«, verdeutlicht Vared ihr und wirft einen Blick auf die Leiche von Oskar. »Ich habe es euch beiden schon so oft gesagt. Ihn hat es bereits getötet.«
»Ich ...«, setzt Mira an.
»Reiß dich zusammen, Malnada«, unterbricht Vared. »Steh auf!«
Sie folgt seinem Befehl und ist zurück auf den Beinen.
»Der Feuerrote«, beginnt Nika, »der Bote des Feuers, der Rotaugen-Zwilling, Held des Dämonenkrieges oder einfach Vared Barhain. Es ist lange her.«
Sie steigt von ihrer Blüte ab und bewegt sich langsam auf uns zu.
»Kennen wir uns?«, fragt Vared.
»Nihidakka Aldikki. Wir sind uns im Wibuku-Dschungel begegnet«, antwortet sie.
Vared schüttelt den Kopf und sagt: »Nein, da klingelt nichts. Ich bin sowieso schlecht im Merken von Namen.«
»Es war zur Zeit des Dämonenkrieges«, führt sie fort.
»Spar dir die Erläuterung, Pflanzenmädchen. Es interessiert mich nicht!«, winkt Vared sie ab.
Nika schreit auf und schleudert mit einer Handbewegung eine Wurzel in seine Richtung. Der Aufprall wird von den Flammen absorbiert. Es ist wie in unserem Zuhause, als sie das Geschoss verschlangen. Sie umringen ihn, wie ein Schild.
»Zwecklos«, sagt Vared und streift durch sein gelocktes Haar. »Da hatten deine Schoßhündchen mehr auf dem Kasten.«
»Deine Feuermagie sucht durchaus seines Gleichen«, erwidert Nika. »Warum auch immer Meltana dich als ihren Boten ausgewählt hat. Einen Menschen ... einen Mann!«
Sie bleibt einige Meter vor ihm stehen und streckt ihre Arme aus. In einem Halbkreis um Nika wachsen neue Blumen. Das von ihnen erzeugte blaue Licht trägt dazu bei, dass sie zum Mittelpunkt der Nacht wird.
Vared lässt die Dryade nicht aus den Augen und rechnet mit einem nächsten Angriff. Mira steht knapp hinter ihm. 
Sie zieht ihre Augenbrauen zusammen und sagt: »Was hat sie jetzt schon wieder vor?«
Mit einem Mal lässt Nika ihre blättrigen Hüllen fallen und steht nackt vor uns. Abgesehen von den unnatürlichen Hautfarben und der Beine, sieht sie aus, wie eine Frau. Ich dreh mich vor Scham zur Seite. Wie damals, als Anna auf die Idee kam, sich bei uns ihre nasse Kleidung auszuziehen und in ein Gewand von meiner Mutter zu schlüpfen. Ihr war nicht bewusst, dass sie bereits zu einer schönen Frau herangewachsen war.
Mira lacht lautstark los und ruft: »Ist das ihr Ernst? Will sie den Kommandanten verführen? Als ob das funktioniert ...«
Mein Blick richtet sich auf etwas anderes. Ein kleines katzenartiges Wesen sitzt in der Nähe von Norbert und leckt sich die Pfote. Sein schwarz gepunktetes weißes Fell strahlt ein Licht aus. Mit drei langen dünnen Schwänzen wedelt es durch die Luft. An ihrem Ende ist jeweils ein Stern. 
Es schaut mit weit geöffneten Augen zu mir. Ein Schwall von Geborgenheit und Wärme überkommt mich. Ich muss zu ihm. Es ruft mich. Mit schnellen Schritten gehe ich auf das fremde Wesen zu. Im Hintergrund verfolge ich das Gespräch von den Anderen.
»Früher magst du im Vorteil gewesen sein«, sagt Nika, »aber heute bin ich in der Blüte meines Lebens. Mit dieser Magie ist mir kein Mann gewachsen. Jedes Wesen hat eben seine Schwäche.«
»So ein Unsinn«, antwortet Mira. »Ein Verführungszauber wirkt niemals! Habe ich recht, Kommandant?«
Eine Stille überkommt den Wald. Ich komme dem fremden Wesen näher.
»Kommandant?«, hakt Mira nach.
»Es ist zu spät, Mädchen«, erwidert Nika. »Dieser Zauber ist weitaus älter und mächtiger, als wir alle zusammen. Mach ihm keinen Vorwurf. Er gehorcht jetzt mir.«
Sie verfällt in ein höhnisches Lachen. Ein Verführungszauber? Ich drehe mich um und Vared steht neben Nika. Mira lässt sich vor Schreck zu Boden fallen.
»Das ist nicht wahr! Das ist nicht ihr verdammter Ernst, Kommandant!«, flucht Mira. »Halten große Lehren über Konzentration und Überheblichkeit und lassen sich von einer Pflanze verführen?«
Sie benötigen Hilfe. Nur wie? Ich suche das katzenartige Wesen. Es ist nicht mehr da. Dafür ist Annas Vater bei Bewusstsein. Ich renne zu ihm.
»Norbert! Du lebst! Wo ist Anna?«, frage ich energisch.
Mit geschwächtem Blick zeigt er mit der Hand auf etwas und sagt: »Ihre Tasche ... sie hat sie verloren. Du musst meine Tochter finden, Noel! Bitte ... ich schaffe es nicht mehr. Du bist alles, was ihr geblieben ist.«
Ihre Tasche? Sie liegt einige Meter von Norbert entfernt auf dem Boden. Hastig greife ich nach ihr und kehre zu ihm zurück. Ich durchwühle sie und finde Pikfrüchte des Herzblattbaumes und einen Verband. 
»Ich habe heute schon genug verloren«, sage ich. »Ich werde dich verarzten und dann suchen wir sie zusammen.«
Norbert lächelt in seinen Bart, verliert jedoch das Bewusstsein. Während ich eilig die Wunden versorge, beobachte ich Nika. Sie ignoriert uns und ist auf Mira konzentriert. Vareds Augen leuchten grün, wie die der Dryade. Er ist besessen. Mit einem schnellen Schwung packt er Mira am Hals und hebt sie vom Boden. 
Sie versucht verzweifelt, den Griff zu lösen, und wimmert: »Bitte ... Kommandant. Ich flehe sie an. Kommen Sie zu sich! Ich bin es ... Mira!«
Es ist aussichtslos. Was soll ich tun? Anna hätte sicher eine Idee. Ich muss denken wie sie! Sie würde in ihre Tasche greifen und eine rettende Lösung finden. Hektisch suche ich in ihrer Tasche: eine silberne Kette, eine Feder, einige Blätter aus dem Wald, eine Phiole gefüllt mit Sekret, eine Schere – Moment! Eine Phiole mit Sekret? Ein Geistesblitz überkommt mich. Das ist der Venuxir! Wir haben ihn aus Istal! Das ist es! Damit besiegen wir Nika!
Ein Schrei voller Schmerzen ertönt. Es ist Mira. Vared hat ihr gerade das linke Bein gebrochen. Er lässt sie fallen.
»Ist es nicht das, was ihr Menschen mit anderen Wesen macht?«, fragt Nika. »Sie quälen. Ihnen das nehmt, was ihnen am Wichtigsten ist, indem ihr sie einsperrt oder ihnen, nur zum Vergnügen, Schmerzen zufügt. Wo ist deine Schnelligkeit jetzt, Mädchen?«
Mira liegt winselnd am Boden. Ihre Hoffnung ist gebrochen. Ich muss mich beeilen! Also ziehe ich das Messer von Vater und schmiere das Sekret auf die Klinge. Es ist klebrig genug, so dass es nicht herunterläuft. 
Ich schleiche mich seitlich an Nika, die sich weiterhin an der Verzweiflung von Mira erfreut. Nur noch wenige Meter trennen uns. Oh, Stellux. Ich bitte um Vergebung, dass ich einem Wesen womöglich das Leben nehme. Aber es ist der einzige Weg, um sie zu retten!
Jetzt oder nie! Mit einem Satz springe ich vor und ramme das Messer tief in Nikas Bauch. Sie schaut mich mit offenem Mund an. Dann lächelt sie.
»Noel? Habe ich nicht gesagt, es benötigt mehr als ein Messer, um mich aufzuhalten?«, sagt sie spöttisch.
»Waldinsekten, Band 1: Seite 43«, antworte ich lächelnd. 
Ich stelle mir Anna vor. Wie gut sie diese Antwort fände. 
»Endlich hast du dir mal etwas gemerkt«, würde sie mit einem Grinsen sagen.
Nika ist verwundert und erwidert: »Was? Was soll das heißen?«
»Venuxir«, erkläre ich. »Jedes Wesen hat eben seine Schwäche. Das sagtest du doch, oder?«
Ihr Blick ist plötzlich voller Furcht. Sie geht einen Schritt zurück und zieht sich das Messer aus dem Bauch. Das Sekret ist in ihr. 
»Nein!«, wiederholt sie immer und immer wieder. »Das ist unmöglich!«
»Es tut mir leid«, entschuldige ich mich. »Es gab keinen anderen Weg.«
Sie starrt ihre Hände an, die langsam verblassen und zerfallen.
»Hier endet es wohl«, sagt sie lächelnd. »Besiegt von einem Mann.«
Sie fällt vor mir auf die Knie und führt ihre Rede fort: »Nein, kein einfacher Mann.  Ein Besonderer.«
Während ihr Körper weiter verdorrt, sieht sie sich ein letztes Mal um.
»Ich wollte doch nur das beschützen, was ich liebe. Kannst du mir verzeihen?«, fragt sie.
»Ich verzeihe dir«, antworte ich, »aber bitte sag mir ... wo ist Anna?«
Sie nickt und erwidert: »Sie ist nicht weit von hier. Du kennst den Ort. Die Mastar-Ruine. Keine Sorge. Er verletzt sie nicht. Er beschützt sie. Dieser Wald birgt viele Gefahren. Aber ich befürchte, er lässt sie nicht gehen. Sie ähnelt ihr zu sehr, weißt du?«
Nika erschafft mit letzter Kraft ein Beet blauer Blüten.
»Hier, die werdet ihr brauchen«, sagt sie. »Du hattest Recht. Die Dunkelheit hat mich verzehrt. Aber du hast mir verziehen und mich befreit. Ich danke dir dafür, Noel. Ich gehe jetzt zu meiner Familie. Ich habe noch etwas gut zu machen.«
Bevor ich weitere Fragen stelle, zerfällt Nika und ein seichter Wind trägt sie in den Wald. 
»Das war hervorragende Arbeit, kleiner Mann«, lobt Vared. Der Zauber ist erloschen. »Du hast unser Leben gerettet.«
»Wären Sie nicht einer Pflanze mit Brüsten verfallen, hätten wir diese Hilfe nicht gebraucht«, erwidert Mira wütend. »Sie haben mir das Bein gebrochen!«
»Darüber wird niemals gesprochen«, antwortet Vared mit starrem Blick. »Das ist ein Befehl, Malnada!«
Mira schaut beleidigt zur Seite und murmelt: »Jawohl, Kommandant.«
»Anna ist in den Ruinen«, sage ich und pflücke dabei die blauen Blumen. »Ich habe Nika nicht genau verstanden, aber es sieht so aus, als sei sie bei dem Ignaeria.«
»Das ist ja wunderbar«, reagiert Mira. »Der Tag war ohnehin so langweilig. Da besuchen wir am besten einen alten Dämon. Wie war das noch, Kommandant? Eine ganz einfache Mission?«
»Ihr kennt ihn? Mich kann er nicht sehen. Ich gehe allein und schleiche mich an ihm vorbei«, erkläre ich. »Das hat beim letzten Besuch auch geklappt.«
Bevor ich losgehe, hält Vared meinen Arm fest.
»Du hast nicht bedacht, dass sich etwas geändert hat, kleiner Mann«, lehrt er mich. »Du hast soeben ein Leben ausgelöscht.«
Er hat recht. Ich habe Nika getötet. Das habe ich vergessen.
»Oh nein!«, ärgere ich mich. »Was machen wir jetzt?«
»Wir gehen zusammen«, erwidert Vared. »Erinnerst du dich an meine Worte in deinem Haus? Du bist nicht allein.«
»Aber der Ignaeria ist riesig. Was sollen wir gegen ihn ausrichten?«, frage ich mit einer verzweifelten Geste.
»Wir bekämpfen Feuer mit Feuer!«, antwortet Vared und zwinkert mir zu.
»Hoffen wir, dass es kein Weibchen ist«, wirft Mira augenrollend ein. 
Der Feuerrote schaut zur Seite und schenkt ihr einen erzürnten Blick.
»Und wer kümmert sich um Torwald und Norbert?«, füge ich hinzu. »Wir lassen sie hier doch nicht allein?«
»Mach dir um uns keine Sorgen«, hallt es aus dem Wald.
Es ist Norbert. Er ist wieder auf den Beinen und hat sich etwas erholt. Die Frucht des Herzblattbaumes hat gewirkt! Torwald liegt regungslos und voller Schleim neben ihm. 
»Der Haudegen erholt sich auch wieder«, sagt Norbert, nachdem er den Puls von Torwald gefühlt hat. »Rette meine Kleine, Noel. Ich vertraue dir.«
Ich nicke ihm zu.
»Mira, was ist mit dir?«, frage ich. »Kannst du überhaupt noch gehen?«
»Ich komme mit euch«, antwortet sie. »Einer muss den Kommandanten ja vor weiteren Dryaden schützen.«
»Wenn du so weiter machst, kürze ich dir den Lohn, Malnada!«, erwidert er und macht sich bereit zum Aufbruch.
»Er müsste sich bei den Gefahren eher verdoppeln! Oskar ist ohnehin schon tot. Der braucht keinen mehr«, meckert sie weiter. 
Der Gedanke an ihren toten Kameraden lässt sie trauernd den Kopf senken. 
»Der kommt in die Gemeinschaftskasse«, sagt Vared trocken. 
Gemeinschaftskasse? Lohn? Sie verhalten sich so anders, als alle im Dorf. Auch ihre Sprache ist ungewöhnlich. Wenn wir das alles überstehen, habe ich unendlich viele Fragen. Anna sieht es sicher ähnlich.
Ich reiche Vared und Mira eine Blüte und erkläre ihre magische Wirkung. Wir sind bereit. Anna, wir finden dich.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Ignaeria

Die Nacht ist still. Wir sind auf dem Mastar-Pfad und Vared trägt Mira über der Schulter. Sie ist sichtlich genervt davon, dass sie ihre Schnelligkeit verloren hat.
Es ist nicht mehr weit. Jeder von uns hat, zum Schutz vor dem Rauch, eine blaue Blüte, die mit ihrem Licht die Dunkelheit erhellt.
Im nächsten Augenblick steht uns ein Wolf im Weg. Er knurrt und fletscht die Zähne. Seine Augen sind auf Vared gerichtet. 
»Noch so einer«, stöhnt Vared. »Der hat sich wohl verlaufen.«
Bevor der Feuerrote seine Magie anwendet, greife ich ein: »Warte! Dieser hier ist anders. Ich kenne ihn. Das ist Lucky. Anna hat sich gestern mit ihm angefreundet.«
»Er sieht nicht freundlich aus«, erwidert Vared.
Ich nähere mich ihm mit Vorsicht und schaue mich um.
»Er ist verletzt«, sage ich. »Schaut, hier liegen andere Wölfe. Sie haben alle Bisswunden. Ich glaube, es gab einen Kampf zwischen ihnen.«
»Lässt mich jemand runter?«, fragt Mira gefrustet. »Ich sehe nichts.«
»Warum sollten sie sich bekämpfen?«, fragt Vared. Er ignoriert Miras Wunsch.
»Vielleicht hat er Anna beschützt«, antworte ich. 
Ich greife nach ihrer Tasche an meinem Gürtel und halte sie Lucky hin. Er schnuppert an ihr und beruhigt sich. Dann rennt der Wolf einige Meter von uns weg und dreht sich um.
»Er will, dass wir ihm nachgehen«, erwähne ich erstaunt. »Er weiß bestimmt, wo Anna ist!«
Wir folgen Lucky und erreichen, kurze Zeit später, die Wand aus orangenem Rauch. 
Vared setzt Mira ab und sagt: »Ab hier kannst du selbst gehen, Malnada. Wir sind da.«
»Na endlich! Sie sind nicht das bequemste Transportmittel«, antwortet sie erleichtert.
Mira schaut sich um, entdeckt den Rauch und fragt: »Da müssen wir durch? Na großartig.«
Ich erkläre erneut die Wirkung der blauen Blüten und wir wandern hinein. Lucky leitet uns dabei.
»Glaubt ihr, es besteht die Möglichkeit, dass wir das Mädchen finden, ohne dieser Kreatur zu begegnen?«, fragt Mira hoffnungsvoll nach. 
Bevor jemand auf die Frage reagiert, ertönt ein dröhnendes Gebrüll in der Nacht und die Erde bebt. 
»Ein ›Nein‹ hätte mir gereicht«, seufzt Mira und schaut betrübt zu Boden.
»Macht euch bereit. Er kommt!«, ruft Vared und stellt sich schützend vor uns. »Ich halte ihn auf und ihr sucht das Mädchen. Verstanden?«
»Können sie ihn nicht einfach verbrennen?«, fragt Mira nach.
»Malnada! Konzentrier dich«, erwidert er erzürnt. »Es ist ein Feuerdämon. Meine Flammen sind wirkungslos. Dazu kommt, dass wir in diesem Rauch nur wenig Luft zum Atmen haben. Das Feuer verstärkt diesen Effekt nur.«
»Sie sind sich aber sicher, dass sie ihn besiegen?«, hakt sie nach.
Vared schüttelt den Kopf und sagt: »Nein. Die Chancen stehen schlecht. Am besten, ihr findet das Mädchen schnell.«
Mira schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an. Ihr Gesicht sagt mir, dass sie sich gerade wünscht, bei Norbert und Torwald zu sein. 
»Das Beben hat aufgehört. Er ist ganz in der Nähe«, mahnt Vared mit erhobener Hand.
»Woher wissen wir, von wo er angreift?«, frage ich und schaue gebannt auf den Rauch.
»Der Vierbeiner hat hoffentlich den richtigen Riecher«, antwortet Vared und dreht sich in die Richtung, in die Lucky knurrt.
Sekunden später schnellt der Ignaeria mit offenem Maul aus dem Rauch. Vared greift ihn am Ober- und Unterkiefer und stoppt seinen Ansturm. Der beim Aufprall entstandene Druck beider Kontrahenten stößt Mira und mich zu Boden.
»Hallo Großer!«, sagt Vared spöttisch, während er mit all seiner Kraft das Maul der Bestie festhält. »Du hast ganz schön Mundgeruch.«
Die Hitze aus dem Maul der Bestie ist unerträglich. Mira, Lucky und ich weichen weiter zurück.
»Sucht das Mädchen!«, ruft uns Vared zu. »Ich kümmere mich um unseren neuen Freund.«
»Wehe, sie sterben!«, droht Mira ihrem Kommandanten.
»Wir müssen uns erstmal beschnuppern«, erwidert Vared und wirft das Maul mit einem Kampfschrei zurück. 
Der Ignaeria schnappt in die Leere. Im nächsten Moment zieht der Feuerrote sein Schwert und holt mit einer Drehung Schwung. Das Maul spürt die volle Breitseite der Klinge und die Bestie verliert das Gleichgewicht. Wir nutzen den Augenblick und eilen los. Mit Hilfe der Tasche bewirke ich, dass Lucky die Fährte von Anna nochmals aufnimmt. 
»Schaffst du es?«, frage ich Mira. 
Der Schmerz ist ihr anzusehen. Sie belastet das Bein nicht mehr, als notwendig. Im Hintergrund ist zu hören, dass sich Vared und die Bestie einen hitzigen Kampf leisten.
»Geht schon«, äußert sie sich. »Wer ist diese Anna eigentlich, dass wir unser Leben für sie aufs Spiel setzen?«
»Sie ist meine Freundin«, erkläre ich. »Wir waren dabei, die Dorfbewohner vor euch zu warnen, und haben uns beim Fest aufgeteilt. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Freundin, verstehe«, bemerkt sie mit einem Lächeln.
Ich werde schlagartig rot und behaupte: »Nein! Nicht so! Wir sind nur Freunde.«
»Ah, ok«, sagt sie und zieht ihre Augenbrauen hoch. »Wir hatten nebenbei nicht vor, jemanden zu verletzen. Ein Spion hat uns darüber unterrichtet, dass alle Dorfbewohner an einem Ort versammelt sind. Der Auftrag war eindeutig: Das Dorffest stürmen und die Brenshar-Gemeinschaft sicher nach Galvanna begleiten. Oskar war ein Idiot. Er wollte dem Kommandanten beweisen, dass er reif für die Prüfung ist, und die Bewohner alleine aus dem Wald begleiten. Wir sind so etwas wie seine Schüler, weißt du? Man nennt uns das Galvanna Sonderkommando.«
Mira zeigt mit einem Lächeln auf die Buchstaben, die in ihre Kleidung eingestickt sind: »GSK«.
»Ich verstehe das nicht«, antworte ich mit verwirrtem Blick. »Wenn es nicht eure Absicht war, uns zu schaden, warum habt ihr das Dorf niedergebrannt? Welchen Grund hat es, dass ihr uns zwingt, die Heimat zu verlassen?«
»Das ist kompliziert«, merkt sie an. »Ich versuche, es dir zu erklären, wenn wir das hier überleben.«
Ich nicke ihr zu. Zu aller erst retten wir Anna. Sie ist irgendwo in diesen Ruinen.
»Noel, schau!«, ruft Mira aufgeregt. »Dort vorne ist Blut.«
»Ist das von Anna?«, hinterfrage ich und renne zu dem, mit Blut bedeckten, Boden.
Durch mein Voranschreiten deckt der Rauch eine ganze Spur auf. Lucky folgt der Fährte. Sie ist tatsächlich von Anna.
»Deine Freundin ist schwer verletzt. Das Blut ist frisch. Sie ist in der Nähe«, erklärt Mira, während sie die Flüssigkeit untersucht.
»Ich finde sie!«, bemerke ich zuversichtlich und rufe ihren Namen durch die Nacht. »Anna!«
Mira unterstützt mich und wir verfolgen die Blutspur.
Nach kurzer Zeit deckt der Rauch eine größere Ruine auf. An einer der Steinsäulen lehnt Anna. Ich renne sofort zu ihr.
»Anna!«, versuche ich ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. »Anna! Ich habe dich endlich gefunden.«
Sie reagiert nicht. Als ich mich ihr nähere, sehe ich den Grund. Sie ist bewusstlos! Ihre Hände drücken auf eine tiefe Wunde an der Hüfte. Ihr sonst bezauberndes Kleid ist verdreckt und an einigen Stellen zerrissen.
»Anna. Hörst du mich?!«, frage ich.
Mein Herzschlag steigt. Bin ich zu spät? Das ist unmöglich. Wir sind so weit gekommen! 
»Sie hat noch einen Puls«, beruhigt mich Mira und hält derweil ihre Hand an Annas Hals. »Ich befürchte, sie hat viel Blut verloren. Die Wunde benötigt einen Verband.«
Mit zitternder Hand wühle ich in ihrer Tasche. Die meisten Pikfrüchte habe ich bei Norbert verwendet. Mein Gesicht ist mit Tränen übersät. Bitte, Anna! Verlass mich nicht ... 
Ich zerdrücke die Medizin über ihre schwere Wunde und verreibe sie sanft. Im Anschluss wickel ich mit schwitzigen Händen den Verband um ihre Hüfte. Mira hilft mir, sie anzuheben. Lucky leckt Anna dabei betrübt das Gesicht.
»Wir bringen sie aus dem Rauch«, sage ich und hebe sie mit aller Kraft an.
Ich fühle, dass mein Körper sich gegen die Anstrengung wehrt. Die heutige Belastung hat ihn erschöpft. Aber ich habe keine Wahl. Das Leben von Anna hängt davon ab. Mit verkrampftem Gesicht und verzweifeltem Stöhnen schreite ich voran. Komm schon, Noel! Einen Fuß vor den anderen. Das ist doch nicht so schwer!
Langsam aber beständig bewegen wir uns durch den Rauch. Doch dann halten wir an, da Vared in unser Blickfeld rauscht. Er wird mit einem lauten Rums in eine der Ruinen auf der linken Seite geschleudert. Sie bricht zusammen und ich verliere durch das dadurch verursachte Beben das Gleichgewicht. Damit Anna sanft fällt, behalte ich meine Hände unter ihr und sinke auf die Knie.
»Kommandant!«, ruft Mira panisch und rennt zu der Einsturzstelle. 
Vared liegt zwischen einigen Steinen. Er befreit sich aus eigener Kraft und richtet sich mit seinem Schwert auf. Seine Kleidung ist von Krallen zerfetzt. Der linke Arm hängt voller Blut an seiner Schulter herunter. Er bewegt ihn nicht. Der Rest des Körpers weist ebenfalls tiefe Wunden auf.
»Das ist ein harter Brocken. Ich befürchte, länger halte ich ihn nicht auf«, bekennt er und hustet etwas Blut. »Ich bin ohnehin nicht in Topform. Die Rückenbeschwerden sind wirklich lästig.«
»Wir verschwinden, bevor dieser Dämon uns findet«, reagiert Mira mit hektischer Stimme.
»Dafür ist es zu spät, Malnada«, antwortet Vared und zeigt mit ernster Miene in meine Richtung.
Ich vernehme ein geringes Beben hinter mir. Mit jedem Moment nimmt die Hitze zu, die auf mich einwirkt. Lucky knurrt und fletscht seine Zähne. Der Ignaeria ist ganz nah. Ich fühle es. 

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Nova

Es ist heiß. Ich schaue auf Anna, die bewusstlos vor mir liegt. Ich habe keine Kraft, aufzustehen, und selbst wenn, der Ignaeria verhindert eine Flucht.
Gefolgt von einem tiefen Atmenzug, schließe ich die Augen. Mein Herz ist, trotz der aussichtslosen Lage, entspannt. Vared, Mira und Anna sind alle schwer verletzt. Diese Bestie ist zu stark. Es hat keinen Zweck, wenn ich mich ihr stelle. Ich bin zu schwach.
Tränen überfluten meine Augenlider. Mutter, Vater, – es tut mir leid. Ich hatte nicht die Kraft, euch alle zu beschützen. Oh Stellux, vielleicht ist es richtig, wenn es hier endet.
»Reiß dich zusammen, Noel!«, hallt eine Stimme in meinem Kopf. 
Ich öffne die Augen und sehe mich um. Die Nacht schimmert in einem hellen Licht und ein Mann steht mit rot-schwarz kariertem Hemd und einer Axt neben den Ruinen. Seine Erscheinung ist nebelhaft. Das ist unmöglich! 
»Vater?! Bist du es?«, frage ich erstaunt.
»Jammerst rum, wie ein kleiner Junge. Das habe ich dir nicht beigebracht, mein Sohn«, antwortet er und streckt seine Axt in die Höhe. »Du bist ein Forstschlag! Schon vergessen?«
»Gib die Hoffnung nicht auf, Noel«, hallt es aus einer anderen Richtung. Es ist Mutter. 
Ich schaue mich weiter um. Was geschieht hier? Ist das ein Traum? Der Ignaeria steht mit geöffnetem Maul direkt hinter mir. Er ist erstarrt, wie der Rest der Umgebung. Lucky, Anna, Vared und Mira sind im gleichen Zustand. 
Auf einmal hüpft das katzenartige Wesen von vorhin wie aus dem Nichts in das Maul der Bestie. Es gleitet nach und nach durch die einzelnen Zahnlücken und ist jetzt direkt vor mir. 
»Willst du wirklich, dass es hier endet?«, spricht es zu mir.
»Nein, ich will sie beschützen«, antworte ich entschlossen.
Das Wesen setzt sich mit wedelndem Schwanz hin, leckt seine Pfote und erwidert: »Was bist du bereit dafür zu geben?«
Ich halte kurz inne und mustere die Gestalt genauer. Dieses Licht und die Wärme ... ist das möglich?
»Du bist Stellux, oder?«, frage ich erstaunt und schaue zu Mutter und Vater. »Ist das dein Reich?«
»Es ist nicht von Belang, wer ich bin«, antwortet es. »Es zählt nur, wer du bist, Noel. Was du willst und bereit bist, dafür zu geben.«
»Was ich bereit bin zu geben?«, wundere ich mich. »Mein Leben, wenn ich Anna und die Anderen damit rette. Sie sind ohnehin der Grund, weshalb ich noch existiere.«
»Selbstlos, wie immer«, erwidert das Wesen. »Aber heute ist nicht der Tag der Opfer. Es ist der Tag der Auferstehung.«
»Wie meinst du das?«, erkundige ich mich und und ziehe die Augenbrauen zusammen. 
Plötzlich legt eine Hand sich auf meine rechte Schulter. Mutter steht hinter mir.
»Die Auferstehung des Lichts, Noel. Es ist deine Bestimmung«, erklärt sie. »Verliere niemals die Hoffnung. Glaube daran und Stellux ist mit dir.«
Im nächsten Moment berührt mich Vater auf der anderen Seite.
»Auch in der dunkelsten Stunde gibt es Licht. Die Medaille hat immer zwei Seiten, mein Sohn. Vergiss das nicht«, fügt er hinzu.
Ich fühle eine ansteigende Wärme und meine Hände und Beine kribbeln. Das Umfeld wird zunehmend blasser. Dann ist es weiß. Die katzenartige Gestalt schwebt stehend in der Luft und dreht sich einmal im Kreis. 
»Entspann dich, Noel«, fordert sie mich auf. »Der Weg ist schwer. Das Ziel ist fern. Du verlierst viel, doch gewinnst umso mehr. Das ist nicht das Ende. Es ist der Anfang – der Anfang deiner Geschichte. Bist du bereit dafür?«
Bevor ich eine Antwort gebe, überkommt mich ein Gefühl der inneren Ruhe. Ich schließe die Augen und es herrscht Stille. Jede Stelle meines Körpers ist gedanklich greifbar. Auch Anna, Vared und Mira spüre ich. Selbst den Ignaeria nehme ich wahr! Sekunden später strömt ein Schwall Energie aus mir, der mich meiner Kraft beraubt. Ich öffne die Augen, doch es ist nichts zu sehen. Nur ein dunkler Raum.
»Noel! Noel Forstschlag!«, ruft eine Stimme. 
Sie hallt stetig durch meine Ohren. Ich versuche sie zu orten, sie zu erkennen. 
»Bist du es, Anna?«, frage ich in die Leere. »Anna, ich bin hier!«
Dann erscheint sie direkt vor mir. Ihr bezauberndes Haar, das makellose Kleid, das hinreißende Lächeln – es ist tatsächlich Anna.
»Anna, du lebst!«, freue ich mich und umarme sie.
»Dank dir«, antwortet sie und drückt sich fest an meine Brust.
Die Wärme schenkt mir neue Stärke. Ich wünsche mir, dass sie nie wieder loslässt, dass wir auf ewig vereint sind.
»Ich liebe dich, Anna«, sprudelt es aus mir heraus.
Überraschend schreckt sie zurück, starrt mich an und fragt: »Was?!«
Mein Herz schlägt rasch. Der ganze Raum dreht sich. Ich versuche zu atmen, zu sprechen, doch es klappt nicht. Plötzlich wache ich mit einem tiefen Atemzug auf. Ich liege mit dem Rücken auf dem Boden und bin wieder in den Mastar-Ruinen. Anna ist direkt über mir und schaut mich fragend an.
»Meinst du das ernst?«, fragt sie.
»I ... Ich«, stottere ich vor mich hin.
Was ist geschehen? Ist das ein Traum oder bin ich wach? Hat sie es etwa gehört? Mein Herz pocht rasend und ich laufe rot an. 
»Also, ähm, ich ... ich habe«, füge ich hinzu, »da war Stellux ... und ich bin«
Bevor ich den Satz beende, hält Anna ihren Zeigefinger auf meinen Mund und küsst mich auf die Lippen.
»Du bist ein Held«, sagt sie zwinkernd und hüpft auf. Sie zeigt auf die Umgebung. »Schau, was du getan hast!«
Ich sehe mich um und gehe in eine sitzende Position. Mein Körper ist weiterhin erschöpft. Dann verstehe ich, was Anna meint. Die ganzen Ruinen sind vom Rauch befreit. Nicht nur das! Der Boden, die Pflanzen, alles ist zu neuem Leben erblüht. 
»Was war das, bitte?!«, äußert sich Mira hinter mir. 
»Ein Kuss?«, antwortet Anna mit einem Lächeln.
»Nein!«, erwidert sie genervt. »Ich meine dieses abgedrehte Licht, das Noel ausgestrahlt hat. Das war der Wahnsinn. Ich fühle mich wie neu geboren.«
Mira dreht sich und rennt vor Freude im Kreis. Sie hat wieder ihre ursprüngliche, magische Geschwindigkeit. Die Verletzungen sind verheilt.
»Was ist passiert?«, wundere ich mich. 
»Der Ignaeria war kurz davor, dich zu verspeisen. Dann hast du plötzlich ein warmes Licht ausgestrahlt und den Dämon damit verbrannt«, antwortet Mira und zeigt auf die Bestie. Sie liegt geschwächt am Boden. »Währenddessen hat das Licht unsere Wunden geheilt, den Rauch verdrängt und die ganze Ruine mit Leben gefüllt.«
»Danach hast du das Bewusstsein verloren«, ergänzt Anna mit besorgter Miene, während sie Lucky durch das Fell gleitet. »Den Rest kennst du.«
»Das war Lichtmagie, oder? Unter normalen Bedingungen ist es unmöglich, dass ein Mensch Magie wirkt. Und dann noch so ein mächtiger Zauber! Wie hast du das angestellt?«, hinterfragt Mira skeptisch.
»Ich ... Ich bin mir nicht sicher«, reagiere ich verwirrt.
Es hängt mit dem Traum zusammen. Sie sprachen von der Auferstehung des Lichts. Was meinten sie damit? Mutter, Vater, Stellux – ich verstehe nicht. 
»Das war nicht irgendeine Lichtmagie«, ergreift Vared das Wort und nähert sich uns. Auch er hat sich regeneriert. »Feinde versengt sie, Freunden schenkt sie – die Nova der Nächstenliebe. Einer der mächtigsten Zauber dieser Welt.«
»Aber wie«, setzt Mira an. 
»Malnada! Konzentrier dich«, unterbricht sie Vared. »Es ist noch nicht vorbei. Der Ignaeria hat sich gleich erholt.«
»Was?!«, antwortet sie und dreht sich schlagartig zu der Bestie. 
Der Ignaeria erhebt sich. Mit einem Schwung steht er auf den Hinterbeinen und erstreckt sich bis zu den Baumkronen. Jetzt, da der Rauch vergangen ist, sehe ich ihn zum ersten Mal in voller Pracht. Seine steinernen Schuppen sind teilweise zerbrochen. Mit einem donnernden Gebrüll und ausgestreckten Krallen zeigt er seine Wut. 
»Ich versuche, die Magie nochmal zu wirken!«, gebe ich bekannt und schließe meine Augen. Doch es passiert nichts.
»Du hast genug getan, kleiner Mann«, merkt Vared an und bewegt sich nach vorn. »Dank deines Lichtes, fühle ich mich mindestens zehn Jahre jünger. Malnada! Bist du bereit?«
Mira folgt ihrem Kommandanten. Sie hält ihr Schwert kampfbereit über dem Kopf und verlagert das Gewicht auf ihren vorderen Fuß. 
»Nochmal verliere ich heute nicht«, erwidert sie zielsicher.
»Komm, Noel. Wir gehen besser in Sicherheit«, spricht mich Anna an und hilft mir auf. »Wer sind die beiden eigentlich?«
»Sie sind aus Galvanna«, berichte ich und suche mit Anna und Lucky in den Ruinen Schutz.
Währenddessen eröffnet Mira den Kampf mit dem Ignaeria. Sie schnellt vor und schlitzt seine Hinterbeine auf. Die Wunden sind nicht tief, aber störend. Die Bestie kommt zurück zu Boden und schnappt nach den blitzartigen Bewegungen seiner Kontrahentin. Doch sie ist zu schnell. 
Es erinnert mich an Vater, wenn er versucht, eine Fliege davon abzuhalten, sich auf ihn zu setzen. Sie lieben seinen Geruch. Mutter hat ihn häufig ermahnt, sich mehr zu waschen. 
Vared nutzt den Moment der Ablenkung und rammt seine Klinge in eines der Vorderbeine. Der Ignaeria knickt um und das Maul schlägt auf dem Boden ein. Die Erde bebt. Mira besteigt über die Hinterbeine den Körper der Bestie und greift gezielt die Ohren an. Im nächsten Moment schwingen scharfe Pranken auf sie ein. Sie hechtet mit einem Satz zurück und rutscht auf dem Rücken von dem Dämon hinunter.
Der Kommandant reißt sein Schwert heraus und springt zu dem zweiten Vorderbein auf dem Kopf. Er greift es sich und zieht es mit einem gewaltigen Ruck nach hinten. Ein Aufschrei der Bestie und ein Knacken deuten auf einen Knochenbruch hin.
Der Ignaeria liegt hilflos auf dem Boden. Ohne intakte Vorderbeine ist es ihm nicht möglich, sich zu erheben. Vared steht direkt auf dem Kopf seiner Beute und hält sein Schwert vor sich. 
»Es war mir eine Ehre, Großer«, offenbart er und rammt seine Klinge tief in den Schädel des Ignaeria. »Ich hatte lange nicht so einen Spaß!«
Die Bestie heult ein letztes Mal auf. Es ist vorbei. Er ist besiegt. Erleichtert lächeln Anna und ich uns an. 
»Wir haben es geschafft«, freue ich mich. »Wir haben es tatsächlich geschafft.«
»Du hast doch etwa nicht daran gezweifelt?«, erwidert sie spöttisch und neigt ihren Kopf zur Seite. Doch dann schaut sie betrübt in den Wald. »Aber wir haben auch viel verloren. Vater und die Anderen ... sie sind alle ...«
»Dein Vater lebt«, korrigiere ich sie. »Er und Torwald haben überlebt.«
»Was?!«, erwidert sie mit offenem Mund. »Dann müssen wir zu ihm! Los, Noel! Komm!«
Sie steht auf und fordert mich auf, ihr zu folgen.
»Lass uns auf Mira und Vared warten«, entgegne ich. »Sie begleiten uns aus dem Wald.«
Anna nickt und wir schauen gemeinsam zu ihnen hinüber. Sie stehen vor der toten Bestie. Gebannt beobachten sie, wie sich der Ignaeria Stück für Stück in Rauch auflöst. Wir bewegen uns auf sie zu.
»Da ist jemand!«, ruft Mira erstaunt. 
Mitten in dem aufsteigenden Qualm liegt eine bewusstlose Person. Ihre Haut ist gräulich, sie hat vier Arme und einen schuppigen Schwanz. Vared, Anna, Mira und ich schauen uns fragend an. Wer ist das?

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Ausblick

Die Mastar-Ruine blüht in neuem Glanz. Sattgrüne Ranken umarmen die alten Steine. Blaue Blüten erhellen die Nacht. Der Rauch und die Bestie sind vergangen. 
Gebannt starren wir auf den vierarmigen Fremden. Er liegt genau dort, wo der Ignaeria sich in Rauch aufgelöst hat.
»Er hat vier Arme!«, analysiert Anna aufgeregt. »Dazu dieser lange schuppige Schwanz und die stückweise, rot-schuppigen Stellen auf der Haut. Ansonsten ähnelt er stark einem Menschen. Was ist das für ein Wesen?«
Ungehemmt und voller Neugierde nähert sie sich der fremden Gestalt.
»Anna! Sei vorsichtig!«, ermahne ich sie. »Wir wissen nicht, ob er gefährlich ist.«
»Kommandant, ist es das, was ich denke?«, erkundigt sich Mira.
Vared nickt mit ernstem Blick und antwortet: »Die vier Arme sind ein eindeutiges Zeichen. Er ist ein Abkomme der Dämonen.«
Anna und ich lauschen gebannt der Unterhaltung des Duos. 
»Aber seit wann haben sie einen Schwanz?«, erwidert Mira. 
Der Kommandant marschiert einige Schritte vor und schüttelt den Kopf. 
»Das haben sie nicht«, äußert er sich und rollt die fremde Gestalt auf den Rücken.
»Ok – er ist männlich«, erwähnt Mira und dreht sich errötend zur Seite. 
Ein vollends nackter Körper ist sichtbar. Auch Anna wendet sich entgeistert ab. Er hat rötliches Haar und durch Schuppen verschlossene Löcher am Bauch.
»Ist es möglich, dass dieser Mann der Ignaeria war?«, frage ich.
»War er verflucht?«, fügt Mira hinzu.
»Durchaus möglich«, entgegnet Vared. »Das finden wir wohl nur heraus, wenn wir ihn mitnehmen.«
Mit einem Ruck hebt er ihn auf seine Schulter. 
»Sind sie sicher, Kommandant? Er ist immerhin ein Dämon. Ist es nicht gefährlich, ihn mit nach Galvanna zu nehmen?«, hinterfragt Mira.
»Also schlägst du vor, ihn hier zu lassen? Mitten im Wald – ohne Aufsicht? Dann entsteht ohnehin ein Chaos«, würgt Vared seine Gefährtin ab.
Mira akzeptiert die Entscheidung und wir brechen auf. Auf dem Weg zurück zu Norbert und Torwald berichte ich Anna vom Kampf mit Nika. Sie hört aufmerksam zu und ist beeindruckt von meiner Idee mit dem Venuxir. 
»Das hätte ich dir nicht zugetraut, Noel«, merkt sie mit einem Lächeln an. »Manchmal erinnerst du dich also doch an das, was ich sage.«
Ich erzähle ihr auch von den fremden Gestalten in unserem Dorf und dem Mord an Mutter und Vater. Sie ist betrübt und versucht, ihr Mitleid in Worte zu fassen.
»Das ist schrecklich, Noel«, bedauert sie. »Wenn ich irgendetwas tun kann, sag es bitte. Du hast mich damals bei meinem Verlust von Mama auch unterstützt!«
»Ist schon ok«, antworte ich. »Sie sind jetzt bei Stellux. Wichtig ist, dass ich dich retten konnte. Nicht auszudenken, wenn ich dich auch noch verloren hätte.«
»Keine Sorge«, erwidert sie und zwinkert mir zu. »So schnell wirst du mich nicht mehr los.«
Anna greift meinen Arm und schmust sich mit ihrem Kopf an mich. Was hat das zu bedeuten? Sind wir jetzt mehr, als Freunde? 
Bevor ich unsere Beziehung weiter hinterfrage, dreht sich Anna zu Mira und Vared und fragt: »Hast du gesehen, was sie bei sich tragen? Die Gegenstände und Kleidung sind mir fremd. Es ist alles viel fortschrittlicher. Können wir ihnen vertrauen? Sie sind mit verantwortlich für das, was im Wald passiert ist.«
»Ich vertraue Mira und Vared«, bemerke ich. »Sie haben uns das Leben gerettet.«
»Und du hast ihr Leben gerettet«, ergänzt Anna grinsend. 
Sie erzählt mir von ihren Erlebnissen im Dorf und im Wald. Sie fand Norbert, doch es war zu spät. Die Fremden hüllten alles in Flammen und trieben die Dorfbewohner zusammen, wie eine Herde Buckl. Auch Torwald holten sie aus dem Verlies. Dann entfernte sich Vared von der Truppe. Oskar stritt dadurch mit Mira lautstark, bis er den anderen befahl, ohne Vared aufzubrechen. Letztendlich lauerten die Wölfe im Wald.
»Es ging alles so schnell. Auf einmal war das Licht verschwunden und überall waren Schreie und Blut! Papa zog mich panisch aus der Menge und wir sind weggerannt. Ich bin hingefallen und die Wölfe schnitten uns den Weg ab. Papa stellte sich ihnen, damit ich entkomme. Auf der Flucht wirkte es so, als verfolgen mich nicht nur die Wölfe, sondern der ganze Wald. An den Ruinen traf ich dann Lucky. Durch ihn schaffte ich es bis in den Rauch.«
Sie streift fröhlich durch das Fell ihres treuen Begleiters. 
»Wie hast du dich verletzt?«, erkundige ich mich.
»Das ist im Rauch passiert«, antwortet sie. »Ich dachte, ich sei dort sicher, aber der Ignaeria hat mich verfolgt. Es wirkte, als wisse er diesmal, wo ich bin. Auf dem Weg hinaus, bin ich beim Umsehen gestolpert und auf etwas Spitzes gefallen. An mehr erinnere ich mich nicht. Ich glaube ich war ohnmächtig.«
»Wir haben dich an einer der Ruinen gefunden«, erkläre ich. »Wenn du vorher ohnmächtig warst, wie bist du da hingekommen? Hat dich der Ignaeria dort hingebracht?«
»Warum sollte er das machen?«, fragt sie verwundert.
»Nika meinte, dass sie dich bewusst zu ihm geführt hat«, merke ich an. »Sie sagte, du ähnelst jemanden, den er kennt, und dass er dich nicht verletzt.«
Gemeinsam schauen wir auf den bewusstlosen Körper, den Vared durch den Wald trägt. 
»Das wirft alles so viele Fragen auf«, äußert sie mit verzweifelter Miene. »Ich bin entsetzt, dass Nika uns verraten hat. Sie hat versprochen, uns zu helfen!«
»Das war ihre Art zu helfen«, korrigiere ich. »Sie wollte, dass wir frei sind. Sie hat uns auf die gleiche Art befreit, wie sie sich selbst damals befreit hat. Das war aber nicht der richtige Weg. Sie hat es am Ende eingesehen und sich von der Dunkelheit in ihr abgewendet. Ich habe ihr verziehen.«
»Du hast was?«, erwähnt Anna erstaunt. »Sie hat nahezu jeden umgebracht, mit dem wir aufgewachsen sind!«
»Sie hat ehrliche Reue gezeigt«, begründe ich. »Mit Hilfe ihrer blauen Blumen waren wir in der Lage, dich zu retten. Wir haben alle Fehler gemacht. Wären wir im Dorf geblieben, hätte Nika das Wasser aus der Mastar-Quelle nicht erhalten und keinen Anreiz gehabt uns zu helfen. Galvanna, wir, Torwald und die Gemeinschaft – jeder hat seinen Teil dazu beigetragen.«
»Da hast du wohl recht«, antwortet Anna. »Doch wie geht es jetzt weiter?«
»Zuerst gehen wir nach Galvanna«, erwidere ich. »Wenn ich es richtig verstanden habe, liegt das Dorf außerhalb des Waldes.«
»Galvanna ist kein Dorf!«, berichtigt mich Mira. Sie hat uns zugehört. »Es ist eine riesige Stadt! Mit tausenden von Menschen!«
Anna und ich schauen uns erstaunt an. Tausende von Menschen? Ich sehe in ihren Augen, wie sie sich vorstellt, allen zu begegnen und Neues von ihnen zu lernen.
»Anna! Anna! Du lebst!«, ertönt es aus dem Wald. Norbert rennt hastig auf seine Tochter zu und umarmt sie. »Du hast sie gefunden, Noel!« 
»Papa! Du erdrückst mich!«, bemerkt Anna nach Luft schnappend.
Er bremst seine Freude und tritt einen Schritt zurück. Als er sich umsieht, entdeckt er den fremden vierarmigen Dämon auf Vareds Schulter. Seine Stimmung schwenkt schlagartig um. 
»Ein Dämon!«, ruft er bestürzt. »Wieso habt ihr einen Dämon dabei?«
»Du kennst Dämonen?«, fragt Anna skeptisch und hebt ihren Zeigefinger. »Es gibt viel, dass du mir erzählen musst, Papa!«
Norbert seufzt lautstark und antwortet: »Es bleibt mir wohl keine Wahl mehr.«
»Dämonen, Galvanna, all die anderen Menschen. Wieso habt ihr das Alles vor uns verheimlicht?«, erkundige ich mich.
»Es war immer nur zu eurem Schutz«, erwidert Torwald. Er steht hinter Norbert und ist am ganzen Körper voller Schleim. »Die Brenshar-Brüder haben die Gemeinschaft samt Dörfern erschaffen, um uns ein Leben in Frieden zu ermöglichen. Ein Leben ohne Geld, Strom und Magie. Ein Leben in dem alle füreinander da sind, anstatt sich zu bekriegen. Wir haben uns alle vor fünfzehn Jahren für dieses Leben entschieden.«
»Ich habe mich nicht dazu entschieden«, reagiert Anna gefrustet.
»Wir wollten warten, bis ihr achtzehn Jahre alt seid«, erklärt Norbert. »Dann hätten wir euch alles erzählt.«
»Ich unterbreche euch nur ungern«, redet Vared dazwischen, »aber wir müssen jetzt los. Alles weitere könnt ihr auf dem Weg besprechen.«
»Was ist mit den ganzen Leichen, Kommandant? Was ist mit Oskar?«, fragt Mira mit gesenkten Mundwinkeln. 
»Wir rufen eine Einheit, wenn wir den Wald verlassen haben. Hier haben wir keinen Empfang«, antwortet Vared. »Sie kümmern sich um die Bergung.«
»Empfang?«, hinterfragt Anna. »Was ist das?«
Der Kommandant hebt seine Augenbraue an und erwidert: »Malnada erklärt euch alles. Sie ist jetzt für euch zuständig.«
Mira schaut entsetzt mit offenem Mund in die Leere und streckt ihre Hände aus, als würde sie gleich einen Sack Weizen entgegennehmen. Sie bemerkt, wie Anna und ich sie erwartend anstarren und seufzt: »Wenn es sein muss. Ich erkläre euch alles. Aber erst will ich aus diesem Wald raus und ins Auto.«
»Auto?«, erkundige ich mich und schaue sie verblüfft an.
Mein Herz rast bei dem Gedanken, was uns alles außerhalb des Waldes erwartet. Es gibt so viele Dinge, die wir noch nie gesehen haben. 
»Ach richtig, Autos kennt ihr auch nicht«, führt Mira fort. »Das sind sehr schnelle Transportmittel.«
»Also Tiere?«, fragt Anna.
»Ne. Die sind mechanisch«, verneint Mira und lacht. »Ich befürchte, ihr habt eine Menge nachzuholen.«
»Na dann! Worauf warten wir noch? Auf zu den mechanischen Tieren«, fordert Anna alle auf.
Gemeinsam gehen wir auf dem Valan-Pfad aus dem Wald hinaus. Anna nutzt die Zeit und durchlöchert Mira mit Fragen. Erst verweigert sie das Gespräch, aber schlussendlich gibt sie nach. Sie erzählt uns eine Menge über Strom und was man alles mit ihm erreicht. Licht ohne Feuer; Maschinen, die den Menschen bei der Arbeit helfen; Musik, die aus einer Kiste schallt. Wir hören so aufmerksam und aufgeregt zu, dass die Zeit bis zum Ende des Waldes im Flug vergeht.
Dann ist es soweit. Nach der letzten Kurve des Valan-Pfades sehen wir deutlich den Ausgang. Je mehr wir uns ihm nähern, desto mehr wird erkennbar. Anstatt des Waldes erblicken wir den Sternenhimmel und viele kleine Lichter in der Ferne. 
»Der Ausgang!«, ruft Anna glücklich, greift meine Hand und rennt los. »Komm, Noel! Wir haben es endlich geschafft.«
»All diese Lichter, sind da überall Menschen?«, frage ich, während ich versuche, mit ihr Schritt zu halten.
»Ja, bestimmt! Schau nur, wie weit wir in die Ferne sehen können. Der Horizont ist niedrig. Der Wald ist auf einem Hügel!«, bemerkt Anna.
Am Ausgang erwartet uns eine mit braunem Sand bestückte Fläche. Vereinzelte Bäume trennen sie von dem steilen Abhang, der eine Aussicht auf die Ebenen dahinter ermöglicht. Es ist zwar Nacht, aber durch die Lichter und den klaren Sternenhimmel ist es nicht im Ansatz so dunkel, wie im Wald. Gemeinsam stehe ich mit Anna am Abhang und bestaune den Ausblick.
»Was ist das alles?«, frage ich mit einem Lächeln im Gesicht. Für einen kurzen Moment ist all die Trauer und das am heutigen Tag Erlebte vergessen. 
»Häuser aus Stein und Metall, riesige Wege«, zählt Anna auf. »Und diese, sich schnell bewegenden Lichter in der Ferne. Was ist das?«
»Das sind Autos«, erklärt Mira, die sich zu uns gesellt. »Die sind auch für die lauten Geräusche verantwortlich, die wir gerade hören. Schaut sie euch am besten aus der Nähe an. Rechts von euch stehen unsere Fahrzeuge.«
Mira zeigt auf große metallische Objekte auf Rädern, die auf dem Sandplatz stehen. Wir waren so fasziniert vom Ausblick, dass wir sie übersehen haben.
»Unglaublich!«, ruft Anna und schaut sich die Autos genauer an. »Sie sind riesig!«
»Das ist ein Truck der Armee«, ergänzt Mira. »Auf dem wollten wir die Gemeinschaft nach Galvanna transportieren.«
Sie öffnet die Plane am Auto und es ist ein breiter Hohlraum sichtbar. Anna sieht sich im Anschluss den vorderen Teil des unbekannten Gefährtes an.
»Ist das ein Glasfenster?«, fragt sie erstaunt. »Noel, sieh nur. Solche haben wir im Dorf nur in der Kirche. Warum haben Autos Fenster?«
»Sie fahren sehr schnell«, erklärt Mira. »Bei der Geschwindigkeit wird es sehr laut im Auto und es entsteht ein starker Luftzug.«
»Stimmt! Das hätte ich mir denken können. Die Luft wird verdrängt und fängt an zu schwingen«, erörtert Anna. »Dadurch entstehen Schallwellen, die wir durch unser Gehör wahrnehmen.«
»Woher weißt du das?«, hinterfragt Mira und schaut verdutzt. Sie hat diese genaue Erläuterung nicht erwartet.
»Wir haben sehr viele Bücher in unserer Schule im Dorf gehabt. Anna hat sie alle gelesen«, erkläre ich.
»Oh! Da liegt ein Mann im Auto!«, schreckt Anna zurück, als sie durch das Fenster späht.
Mira lacht und klärt uns auf: »Das ist Andro. Ich habe mich schon gewundert, wo er steckt. Er gehört zu unserer Gruppe und bewacht die Fahrzeuge.«
Sie öffnet die Tür des Trucks, haut einige Male kräftig gegen das Blech und ruft: »Aufwachen Andro! Los!«
»Was? Wo? Was ist passiert? Seid ihr schon zurück?«, wacht Andro überrascht auf.
»Ich hab dich nicht für ein Nickerchen zurückgelassen«, ermahnt ihn Vared und fährt sich mit einem Seufzer durch sein Haar. Er ist zusammen mit Norbert und Torwald aufgerückt. »Was mach ich bloß mit euch ungehorsamen Pack?«
»Ich bin nur kurz eingenickt«, redet sich Andro raus. 
»Dann hast du das Feuer, den Lichtblitz und den Kampf mitbekommen und bist dennoch nicht zur Hilfe geeilt?«
»Ehm, ein Kampf? Der Westwald ist doch eine friedliche Gegend«, fragt Andro und steigt aus dem Auto aus, um sich umzusehen. »Wo ist der Rest? Was ist passiert? Wo ist Oskar?«
»Tod«, antwortet Mira trocken und steigt in das Fahrzeug ein.
»Weil er genauso ungehorsam ist, wie du«, ergänzt Vared und wirft den Dämon hinten auf den Truck. »Du kannst von Glück reden, dass dich keine Assassine im Schlaf erstochen hat.«
»Oskar ist tot? Das ist nicht wahr«, schluchzt Andro und fällt auf die Knie, während er sich mit den Händen auf dem Boden abstützt. 
Andro ist sportlich gebaut und trägt ein enges weiß-blaues Oberteil. Dazu hat er eine lange, knittrige Hose an. Kurzes schwarzes Haar und blaue Augen verzieren sein Gesicht. Aber das Auffälligste ist der Oberlippenbart.
Ich erinnere mich daran, dass Vater vor Jahren einen solchen Bart trug. Mutter hat er nicht gefallen. Also hat sie einige Zeit später am Esstisch eine List geplant. Sie sagte, dass Valan ihr erzählt habe, dass Vater solch ein Bart nicht stehen würde. Es hat keine fünf Minuten gedauert, bis Vater ihn sich abrasiert hat. 
»Für Trauern ist gerade keine Zeit. Der Abend war lang genug«, unterbricht Vared. »Andro, du fährst den anderen Truck. Nimm die beiden Männer aus dem Dorf mit.«
Der Feuerrote zeigt auf Norbert und Torwald.
»Ich bleibe hier«, korrigiert Torwald plötzlich. »Der Wald ist mein Zuhause. Ich habe mich entschieden. Ich gehe hier nicht weg.«
»Bist du sicher?«, fragt Norbert überrascht.
»Keine Sorge«, antwortet Torwald. »Ich komme zurecht. Ich werde mich in der Dagar-Höhle niederlassen, falls ihr mich sucht. Ich werde mich um die Toten kümmern, bis die Einheit aus Galvanna angekommen ist.«
»In Ordnung«, nickt Norbert. »Wenn du es schaffst, versuche bitte auch das Dorf vor Plünderern zu schützen und unsere Wertsachen zu bergen. Wir haben noch viele Schätze dort.«
»Das werde ich«, erwidert Torwald. »Ich fange die Suche in deinem Haus an.«
»Es tut mir leid wegen Nika«, verabschiede ich mich von Torwald. »Ich hoffe, du verzeihst ihr, für das, was sie getan hat.«
»Danke, Noel«, reagiert Torwald. »Sie trifft nicht die alleinige Schuld. Ich habe auch Fehler begangen.«
»Das haben wir alle«, ergänze ich und lächle ihn an. »Viel Erfolg im Wald.«
»Euch auch. Galvanna wird euch beiden viel abverlangen«, sagt er und schaut zu Anna und mir. »Denkt immer daran, wo ihr herkommt und was ihr dort gelernt habt. Dann werdet ihr das schon schaffen.« 
»Natürlich werden wir das«, ergänzt Anna. »Wir sind schließlich das Entdecker-Team. Oder Noel?«
»Das sind wir«, antworte ich mit einem Grinsen.
Anna und ich steigen zu Mira in das Auto. Lucky springt auf die Rückbank und Vared bewacht auf der Ladefläche den bewusstlosen Dämonen. Andro und Norbert sind im anderen Truck. Aufgeregt beobachten Anna und ich, wie Mira das Fahrzeug steuert und es losfährt. 
Wir haben es endlich geschafft. Vor uns wartet eine ganze Welt, um von uns entdeckt zu werden. 
»Seid ihr bereit?«, fragt Mira und hält kurzzeitig am Ende des Sandplatzes an, bevor ein Weg bergab führt. »Seht ihr das dort hinten am Berg?«
Mira zeigt in der Ferne auf gewaltige Mauern aus Stein und Metall. Sie erstrecken sich auf mehreren Ebenen den Berg hinauf. Dahinter scheint viel Licht und es ragen Türme aus Glas und anderen Materialien in die Luft. Auf der untersten Ebene führt ein Tor in das besiedelte Tal. 
»Das ist die Hauptstadt der Menschen«, ergänzt Mira. »Galvanna. Der Rest ist nur das Umland.«
»Wow!«, gibt Anna von sich. »Noel, das müssen wir unbedingt von Innen sehen!«
»Ja!«, erwidere ich. »Auf nach Galvanna!«
»Auf nach Galvanna!«, wiederholt Anna.

Fortsetzung folgt ...

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Westwald Kurzgeschichten

Erlebe entscheidende Szenen der Figuren in einem Bonuskapitel als Kurzgeschichte. Im Laufe der Zeit werde ich hier ach und nach weitere Kapitel veröffentlichen. Folgt meinem Instagram Kanal , um keine Veröffentlichung zu verpassen.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

Luise (Anna Kapitel)

Es fehlen nur noch einige Schritte. Anna eilt zum Eingang des Hauses der Familie Forstschlag und stürmt außer Atem durch die Tür.
»Anna? Was ist passiert?«, fragt Selena, während sie den Tisch für die morgendliche Mahlzeit deckt. Saftiges Bucklbrot, frische Beeren und Gemüse schmücken den Tisch. 
»Ist Noel zuhause?«, erwidert Anna luftholend. Sie stützt sich mit einem Arm an der inneren Hauswand ab. So schnell ist sie noch nie von der Schmiede hierher gerannt. Aber diese Nachricht ist dringend und erlaubt keine Verzögerung.
»Er ist mit Lars im Holzlager. Was ist denn los? Setz dich doch erstmal. Ich gebe dir ein Glas Wasser.«, antwortet Noels Mutter und dreht sich zur Küche.
»Nein! Dafür ist keine Zeit!«, unterbricht Anna und hält ihre gespreizten Hände vor ihren Körper, der mit einem bezaubernden Kleid umhüllt ist. »Mein Bruder! Er kommt heute auf die Welt!«
Selena zuckt zusammen und gießt dabei einen Schluck Wasser neben das Glas. 
»So früh schon?«
»Ja! Es ist soweit!«, merkt sie glücklich an und rennt wieder aus der Tür. »Ich sage es Noel. Auf Wiedersehen Frau Forstschlag!«
Einige Momente später erreicht sie das Lager der Holzfällerfamilie. 
»Noel! Noel!«, ruft sie lautstark und hämmert gegen die hölzerne Tür. »Wo bist du? Ich werde endlich zu einer großen Schwester. Otto wird geboren!«
Langsam öffnet sich die Tür des Lagers und Noels Vater starrt sie verdutzt an.
»Anna! Was machst du am frühen Morgen für einen Krach?«, fragt er das Mädchen, das sich, ohne der Frage weiter Beachtung zu schenken, direkt an ihm vorbei ins Innere schlängelt.
»Papa, ich habe die Axt gefunden. Sie lag einfach mitten zwischen dem Werkzeug«, erwähnt Noel aus der Ecke des Lagerraumes.
Er ist durch die Unordnung erst sichtbar, als er sich erhebt und die Axt in die Luft hält. Mit weit geöffneten Augen und Mund sowie einem Lächeln bemerkt er seine Freundin.
»Anna? Was machst du denn hier?«, wundert er sich.
»Es ist soweit! Ich werde endlich eine große Schwester! Otto kommt zur Welt!«, freut sich Anna und klatscht dabei aufgeregt in die Hände. »Los! Komm mit! Sonst verpassen wir die Geburt.«
Anna rennt auf Noel zu, packt ihn an der Hand und zerrt ihn hinaus. Überwältigt von der Energie seiner Freundin leistet er keinen Widerstand. 
Kurz vor dem Ausgang übergibt Noel seinem Vater die verlorene Axt und verabschiedet sich mit einem breiten Grinsen: »Bis später, Vater!«
Die Tür knallt mit einem Ruck zu und Lars Forstschlag bleibt in seinem Lager zurück. Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaut er aus dem Fenster und redet in seinen Bart: »Luise gebärt heute ihr Kind? Das ist doch viel zu früh!«
»Schneller Noel! Schneller!«, spornt Anna ihren Freund seit Kindheitstagen an. »Sonst verpassen wir noch das Schönste! «
Sie schaut zu Noel zurück und macht eine auffordernde Handbewegung. Die Fröhlichkeit in ihren Augen ist deutlich. Die letzten Monate gab es nur selten anderen Gesprächsstoff, wenn sich Noel mit ihr unterhalten hat. Otto ist der kleine Bruder, den sie sich schon immer gewünscht hat. 
»Ob er auch rotes Haar hat? So wie ich und Mutter?«, fragt sie sich. »Oder er kommt nach Papa. Vielleicht kommt er direkt mit einem Vollbart zur Welt. Das wäre lustig!«
Anna kichert lautstark. 
»Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, antwortet Noel mit einem nachdenklichen Blick.
»Natürlich nicht!«, erwidert Anna mit einem Entsetzen. »Das war auch nur ein Spaß!«
»Zum Glück waren wir letzte Woche noch in Sunas und haben die restlichen Sachen für das Babyzimmer besorgt«, führt sie weiter fort. »Nicht auszudenken, wenn das Zimmer bei der Geburt nicht fertig gewesen wäre.«
»Stimmt«, erwidert Noel. »Aber der Geburtstermin ist doch erst in drei Monaten? Ist so eine frühe Geburt nicht gefährlich?«
»Ach was!«, kontert Anna. »Er konnte es nur nicht mehr abwarten uns alle endlich zu sehen. Wir geben ihm den Titel: Otto, der Ungeduldige! Nachfahre von Luise, der Schönen und Norbert, dem Bärtigen sowie Schwester von Anna, der Cleveren!«
Sie reißt ihren linken Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Lüfte und lächelt Noel dabei an. Die Freude ist so ansteckend, dass er laut loslacht. 
Unter klarem Himmel eilen die beiden besten Freunde voller Vorfreude zum Haus von Anna. Bunt gemischter Vogelgesang begleitet ihren Weg. Es herrscht eine harmonische Stimmung.
 Als das Duo ihr Ziel erreicht, erwartet sie ein aufgewühlter Norbert. Er stürmt auf seine Tochter zu.
»Anna! Da bist du ja endlich!«, ruft er ihr zu. »Wo bist du gewesen?«
»Ich hab Noel geholt! Schließlich darf er die Geburt von Otto nicht verpassen. Ohne ihn und seine Familie hätten wir das Babyzimmer noch lange nicht fertiggestellt«, antwortet Anna und zieht an ihrem Vater in Richtung Haus vorbei. »Ist er schon geboren? Ich höre noch gar kein Babygeschrei.«
»Anna, jetzt bleib erstmal stehen«, fordert sie Norbert auf. Er wirkt bedrückt. Doch sie beachtet den Aufruf ihres Vaters nicht und bewegt sich näher zum Haus. 
»Los Noel! Ich kann es kaum erwarten, ihn endlich zu sehen«, sagt sie und macht eine passende Handbewegung.
Plötzlich ruft Annas Vater lautstark los: »Anna! Bitte! Du kannst da jetzt nicht rein!«
Sie zuckt zusammen und bleibt stehen. Im nächsten Augenblick nähert sich Norbert seiner Tochter und packt sie fest am Arm. Sein Gesicht ist mit Tränen übergossen, die allesamt in seinem Bart münden. 
»Hier stimmt etwas nicht«, denkt sich Noel. In diesem Zustand hat er Annas Vater noch nie zuvor erlebt. 
»Ich habe dir vorhin schon gesagt, dass Otto viel zu früh kommt. Aber du bist direkt freudig davongelaufen«, sagt Norbert und richtet sein Blick zu dem jungen Forstschlag. »Und jetzt bringst du auch noch Noel hierher? Anna! Die Geburt verlief alles andere als reibungslos.«
Sie dreht sich zu ihrem Vater und schaut ihn mit einem skeptischen Lächeln an. 
»Papa! Erzähl doch nicht so einen Unsinn. Ich werde endlich eine große Schwester! Otto ist nur ungeduldig und hat es nicht mehr ausgehalten. Kein Wunder! Schließlich habe ich ihm jeden Abend eine Geschichte aus meinen Büchern erzählt«, reagiert seine Tochter und reißt sich von ihm los. »Ich gehe zu Mama. Sie ist bestimmt meiner Meinung!«
Noel rückt einen Schritt auf Norberts Höhe vor und fordert sie auf: »Anna, so warte doch!«
Dieser wiederum schaut seiner Tochter mit verzweifeltem Blick nach und ruft: »Anna, sie sind tot! Luise und Otto sind tot!«
Die Worte bohren sich in die Köpfe der beiden Kinder und prasseln hinein, wie eine schallernde Ohrfeige. Noel schaut entsetzt zu dem bärtigen Mann, der auf die Knie zusammenbricht. Anna bleibt regungslos stehen. Immer wieder hört sie die letzten Worte ihres Vaters in ihrem Kopf. 
»Was erzählt Papa da? Tod?«, fragt sie sich. »So ein Unsinn. Heute ist doch der Tag, an dem ich endlich eine große Schwester werde. Der Tag, auf den Mama, Papa und ich schon so lange gewartet haben. Oder doch nicht?«
Auf einmal überkommt sie ein Schwall von Entsetzen. Alles um sie herum wird still. Keine Vögel. Kein rauschendes Wasser. Keine rasselnden Blätter. Dort, wo vor einem Moment noch ihr Haus stand, starrt sie jetzt in eine vollkommene Leere. Ihre Hände fangen an zu zittern und ihr Herz pocht so laut wie nie zuvor. 
Sie blinzelt kurz und dreht sich mit aufgerissenen Augen und offenem Mund zu Noel und ihrem Vater. Ihre Erscheinung ist bleich und Tränen reflektieren das Licht, das in ihr Gesicht strahlt. Sie schüttelt den Kopf und atmet schwer. 
Noel schaut in die Augen seiner Freundin und schluckt bedrückt etwas Spucke hinunter. Ihm fehlen die Worte. Das ist nicht der Grund, warum er hergekommen ist. 
Mit einem Mal rennt das Mädchen los und eilt zu ihrem Haus.
»Mama! Otto!«, schreit sie immer wieder.
»Anna, so warte doch!«, ruft Norbert und rennt seiner Tochter schlagartig hinterher. Noel zögert nicht lang und macht es ihm gleich, aber sie schaffen es nicht sie einzuholen. 
Mit einem kräftigen Ruck reißt sie die Tür auf und rennt direkt in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Es herrscht Stille. Der Arzt des Dorfes ist gerade dabei das Gesicht ihrer Mutter zu bedecken. Der untere Teil ihres Körpers liegt dagegen offen auf dem roten Bettlaken. Nein. Ihre Familie hat keine farbige Bettwäsche. Es ist alles Blut.
Am Ende der Bettkante entdeckt sie etwas, das in blutigem Stoff eingewickelt wurde. Sie braucht nicht lang, um zu realisieren, dass sich ihr Bruder in den Wickeln verbirgt. 
»Otto«, schluchzt sie und bewegt sich langsam auf das Bett zu. 
Im gleichen Moment schaut sie Valan Brenshar an, während er betrübt auf einem Stuhl in der Ecke sitzt. 
»Anna?«, gibt er überrascht von sich. Er erkennt sofort, dass dieser Moment nicht für die Augen eines Kindes bestimmt ist. 
»Bringt das Kind hier raus!«, befiehlt er zwei weiteren Männern im Raum. Diese packen Anna sofort am Arm und verhindern ihr Vorrücken. Zeitgleich schreckt Valan auf, greift nach den blutigen Stoffwickeln und versteckt sie unter seinem Mantel.
»Lasst mich los!«, kreischt Anna und versucht, sich tränenüberströmt zu befreien.
Dann erreichen auch Norbert und Noel den Schauplatz. Gemeinsam zerren sie das Mädchen unter starkem Widerstand aus ihrem Zuhause. Sie weint, atmet schwer und kreischt trotzig. 
»Ich will sie sehen! Ich will zu Mama!«, ruft sie dabei immer wieder, bis sie letztendlich draußen angelangt sind. 
Als die Männer Anna loslassen, rennt sie direkt ohne einen Blickkontakt davon. 
»Anna! Wo willst du denn hin?«, ruft ihr Vater ihr zu. Es kommt keine Antwort. 
Das Mädchen läuft ohne Ziel und mit geschlossenen Augen in die Ferne. Die vor kurzem erlebten Bilder und die Worte ihres Vaters wiederholen sich immerfort in ihrem Kopf. Durch den Schnodder und die Tränen, die über ihr Gesicht gleiten, hat sie ohne Unterbrechungen einen salzigen Geschmack im Mund.
Bevor Norbert seiner Tochter nachläuft, hält Noel ihn mit einem Handzeichen davon ab. 
»Ich gehe zu ihr, Herr Funkenblitz«, spricht er ihn mit einem Lächeln an. »Sie bleiben hier.«
Der große bärtige Mann schließt seine Augen, verliert dabei ein paar Tränen und nickt ihm zu. 
»Kümmere dich um meine Kleine«, denkt er sich. »Sie braucht jetzt, mehr denn je, einen Freund.«
Im nächsten Augenblick nähert er sich der Hauswand und fällt erschöpft zu Boden. Seine Blicke wandern zum Himmel.
»Luise, mein Schatz«, flüstert er mit trauernder Mine. »Warum bist du gegangen? Unsere Kleine braucht dich doch. Wie soll ich das alleine schaffen?«
Plötzlich greift ihn Valan Brenshar an der Schulter und antwortet: »Das Schicksal bringt uns manchmal auf Pfade, von denen wir keineswegs geträumt haben sie zu betreten – und doch stehen wir jetzt hier. Aber eines verspreche ich dir, alter Freund: In dieser Gemeinschaft ist niemand allein.
Noel schreitet langsam die Holztreppe hinauf. Sie wurde erst vor kurzem von Norbert und seinem Vater erbaut, um den südlichen Aussichtspunkt des Dorfes besser zu erreichen. Am höchsten Punkt ebneten sie eine kleine Fläche mit Steinen, auf denen sie eine Bank platzierten. Auf dieser sitzt jetzt Anna und starrt auf das Meer hinaus. Sie ist einige Meter entfernt, doch Noel hört schon ihre Trauer. Immer wieder zieht sie den Schnodder ihrer Nase hoch und schluchzt. 
Er hält kurz inne und überlegt, wie er sich ihr am besten nähert. Bisher gab es keine vergleichbare Situation in ihrem Leben. Alles verlief immer harmonisch und sie hatten Spaß.
»Ok, bis auf die Arbeit im Lager von Vater«, denkt sich Noel.
Wie nähert er sich seiner besten Freundin, die nicht nur ihren Bruder, sondern auch ihre Mutter verloren hat? Was sagt er zu ihr? Wie heitert er sie auf? Geht das jetzt überhaupt? 
Doch dann bemerkt ihn Anna und dreht sich zu ihm.
»Hey«, purzelt es aus ihm heraus, »ich... «
»Schon gut«, reagiert sie mit einem Lächeln. »Setz dich.«
Der Junge geht der Aufforderung seiner Freundin nach und leistet ihr auf der Bank Gesellschaft. Für einen Moment starren sie beiden, ohne ein Wort zu sagen, auf das Meer. In der Ferne ist ein länglicher Fisch zu sehen, der ab und an die Oberfläche streift. Vögel fliegen tief über dem Wasser und halten nach neuer Beute Ausschau.
»Warum gibt es den Tod?«, unterbricht Anna die Stille.
Noel schaut seine Freundin überrascht an und erwidert: »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
»Ich meine, wir lernen so viele Dinge – erleben täglich Neues und haben Spaß. Nur, um dann wieder alles zu verlieren«, führt sie fort. »Das ist doch sinnlos.«
»Aber geht es nicht genau darum?«, hinterfragt Noel. »Um das, was wir täglich erleben? Mutter sagt immer, dass das Leben eine Prüfung für uns ist und der Tod ist der letzte Test. Danach entscheidet sich in welches Götterreich wir kommen.«
»Götter?«, gibt Anna spöttisch von sich. »Daran glaube ich nicht. Ich denke, der Tod ist das Ende. Ein ewiger Schlaf aus dem du nie wieder erwachst - aus dem du nie wieder zurückkehrst.«
»Mutter kehrt nie wieder zurück«, führt sie fort und schluchzt erneut. »Sie hat Vater und mich allein gelassen. Wieso macht sie das? Und Otto? Warum hatte er kein Recht zu leben? Was für eine Prüfung der Götter ist das?«
Anna richtet ihren fragenden Blick zu Noel, der seine Freundin sprachlos anstarrt. Ein Leben zu nehmen, bevor es das Licht der Welt erblickt hat – das ist auch für ihn unbegreiflich. Otto ist zwar nicht sein Bruder, aber er hat sich ebenfalls auf ihn gefreut. Daher brodelt ebenso in ihm eine tiefe Trauer und Wut. 
»Du hast Recht. Das ist nicht richtig«, antwortet er und ballt seine Faust zusammen, auf die Tränen aus seinem Gesicht regnen. »So etwas sollte nicht passieren.«
Als Anna merkt, wie tief ihr Freund mit ihr trauert, lächelt sie. Sie ergreift den zur Faust geballten Arm und lehnt sich mit dem Kopf an ihn.
»Versprichst du mir, dass du mich, egal was passiert, nie allein lässt, Noel?«, fragt sie.
Überwältigt von der Nähe zuckt Noel kurz zusammen und erwidert: »Ich lasse dich niemals allein. Versprochen.«
Anna erhebt sich und schaut im mit einem Lächeln tief in die Augen. 
»Bist du sicher?«, hakt sie nach und senkt ihren Kopf zur Seite. »Was ist, wenn mich ein riesiges Monster, wie diese Seeungeheuer entführt?«
Sie zeigt auf das Meer hinaus.
»Dann rette ich dich!«, antwortet Noel leidenschaftlich. »Und es gibt nichts, das mich davon abhält – nicht einmal der Tod!«
Anna lacht lautstark los und sagt: »Ok, fast hätte ich es dir geglaubt.«
»He! Ich meine das ernst«, antwortet Noel empört.
Anna bewegt sich derweil einige Schritte auf die Klippen zu. Ihr Haar und Kleid weht dabei leicht im Wind. Ihr ist bewusst, dass er es ernst meint. Auf ihn ist eben immer verlass. 
»Schön das es ihn gibt«, denkt sie sich.
Sie hat zwar heute keinen kleinen Bruder bekommen, aber dafür hat sie jemand anderen, für den sich jede Minute zu leben lohnt. Einen Freund.

Westwald Story 2021 (Deutsch): Text

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