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 November 2020, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten.

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Die Nacht ist hereingebrochen. Torwald wandert mit einer Fackel wenige Schritte vor Anna und mir. Er ist wie viele Erwachsene bei uns im Dorf ein Experte im Feuer entfachen.
Wir sind zurück auf dem Valan-Pfad und in der Ferne sehe ich die Lichter aus dem Dorf. Die Fackeln für die Nacht sind entzündet. Meine Eltern und Norbert suchen uns sicher. Ich sorge mich um Mutter, da sie häufig in Panik gerät, wenn etwas nicht stimmt. Das letzte Mal, als ich nicht pünktlich zurück war, saß sie bei meiner Rückkehr mit Tränen überzogen im Haus und atmete schwer. Dabei war ich nur mit Anna am Aussichtspunkt im Dorf und wir haben die Zeit vergessen.
Die westliche Seite unserer Heimat ist nicht vollständig von Wald umgeben. Es gibt dort eine winzige Anhöhe, auf der Vater und Norbert Sitzbänke und einen Tisch aufgebaut haben. Sie ermöglicht eine Sicht auf das Wasser, das sich von der Klippe bis zum weiten Horizont in der Ferne erstreckt. Anna und ich starren häufig auf das Meer und rätseln darüber, was sich alles dort versteckt.
In der Schule lernten wir viel über die Bewohner der blauen Tiefen. Frau Hammelblatt erzählte uns von Fischen und riesigen Meeresungeheuern. Sie empfahl, das Meer deswegen zu meiden. Es sei wie alles außerhalb des Waldes zu gefährlich.
»Da kommt jemand auf uns zu! Schaut!« Anna zeigt mit ihrer Hand den dunklen Pfad entlang.
Bis auf die Fackeln erkenne ich in der Ferne nichts. Dann sehe ich, dass die Lichter sich bewegen. Sie nähern sich uns.
»Anna! Anna!« Die Stimme des Schmiedes hallt durch die Stille des Waldes.
»Papa? Es ist Papa! Papa!« Sie rennt fröhlich auf ihren Vater zu. Er hat sie sicherlich sehnlichst vermisst. Seit dem Tod von Luise ist Anna alles, was er hat und liebt.
Während sie Norbert fest umarmt, schaue ich auf die anderen Personen, die sich nähern. Es ist zu ahnen, dass Vater darunter ist. Meine Mutter Selena ist daheim. Er lässt sie bei solchen Suchaktionen nicht hinaus. Ohne die Lage nicht überprüft zu haben, wären das Risiko und die Gefahr für sie zu groß.
»Überlass mir das Reden, Noel.« Torwald schenkt mir einen strengen Blick. »Egal, was gesagt wird. Ich werde das Ganze schon klären. Misch dich unter keinen Umständen ein.«
Ich nicke ihm zu. Das klingt, als würde er einen größeren Konflikt erwarten. Was verunsichert ihn? Bevor ich darüber weiter nachdenke, erreichen uns die anderen. Es ist Vater mit Valan Brenshar und drei Männern aus dem Dorf.
»Noel!«, ruft Vater. »Wo um alles in der Welt seid ihr gewesen? Deine Mutter ist krank vor Sorge. Wie kannst du ihr das antun?«
Im Augenwinkel sehe ich, wie mir Anna einen bemitleidenden Blick zuwirft. Bevor ich antworte, stupst mich Torwald von hinten an. Stimmt. Ich überlasse ihm das Reden.
»Beruhige dich, Lars! Ich bin mit den Beiden nur ein wenig auf der Jagd gewesen. Sie wollten auch etwas zum Dorffest beitragen.«
»Auf der Jagd? Und wozu braucht ihr bitte das Federvieh auf der Jagd?«
Er deutet auf Hannelore, die am Fußende von Anna den Boden absucht. Ich schaue zu Torwald hinüber, der ebenfalls das Azurosa-Weibchen mustert. Verdammt! Auf diese Frage ist er nicht vorbereitet.
»Natürlich brauchen wir eine Azurosa auf der Jagd, Herr Forstschlag«, antwortet Anna. »Sie sind eine Jagdunterstützung!«
Die erfahrenen Männer werfen sich gegenseitig verwirrte Blicke zu. »Wie kommst du denn darauf, mein Schatz? Das habe ich noch nie gehört«, fragt Norbert.
»Tja, Papa! Kein Wunder! Ich bin letztlich auch in unserer Familie diejenige, welche täglich unsere Lehrbücher studiert. Das steht in meinem Sachbuch ›Ein Azurosa fürs Leben‹. Ich habe es von unserer Lehrerin Frau Hammelblatt geschenkt bekommen, um die Zucht besser zu verstehen.«
Norbert schaut zu Vater und Valan hinüber. Seinem Gesichtsausdruck nach, scheint er seiner Tochter zu glauben. Die anderen Männer wirken weiterhin überrascht, hinterfragen die Erklärung aber nicht. Anna ist bekannt dafür, sich mit allem im Dorf und den dort lebenden Tieren auszukennen. Keiner sonst hat die Bücher wie sie studiert. Ein hervorragender Trick von ihr. Torwald ist beruhigt, alles wieder im Griff zu haben.
»Azurosa hin oder her!« Valan ergreift das Wort. »Tatsache ist, dass du die Gesetze unserer Gemeinschaft missachtet hast, Torwald. Ich bin schwer enttäuscht.«
Er schüttelt den Kopf und schaut bedrückt zu Boden, während er sich mit seinem hölzernen Gehstock abstützt. Seit einiger Zeit hat er Schmerzen in den Gelenken. Er ist einer der ältesten Bewohner in unserer Dorfgemeinschaft und die meisten seiner Haare sind ihm schon ausgefallen. Durch seinen langen Bart wirkt es, als hätte er sie von seinem Kopf abgeschnitten und am Kinn festgenäht. Wir kennen uns nicht gut. Ich grüße ihn ab und zu auf Feiern und er erzählt den Kindern gerne einmal Geschichten. Sie enden durchgehend mit den Sätzen: »Entfernt euch niemals vom Dorf. Dort ist es zu gefährlich!« Es ist immer das Gleiche.
»Valan! Das muss eine Strafe zur Folge haben.« Vater stiefelt aufgeregt hin und her. »Besonders in der Lage, in der wir uns aktuell befinden, war es mehr als fahrlässig, die Kinder auf solch einen Lehrgang in den Wald mitzunehmen.«
»Ich gebe Lars recht!«, fügt Norbert hinzu.
Eine Strafe? In der jetzigen Lage? Er meint sicher die fehlenden Ressourcen für die Schmiede. Was hat es damit auf sich? Warum ist es gefährlich? Bereiten sie sich auf einen Kampf vor? Kurzweilig läuft mir ein Schauer über den Rücken und ich bekomme eine Gänsehaut. Ist die Dryade Nika die Gefahr und Torwald beschützt sie heimlich? Die anderen scheinen nichts von ihr zu wissen. Nein. Sie wirkte vorhin freundlich und hilfsbereit.
»Ihr habt Recht!« Valan richtet seinen Stock auf den Jäger. »Torwald, ich sage dies wirklich ungern, aber du hast zum wiederholten Male gegen die Regeln verstoßen. Ich werde dich vorerst in unser Verlies sperren.«
»Wie bitte? Das könnt ihr nicht machen!« Torwald rückt einige Schritte vor und streckt seine Hand mit dem Handrücken nach oben und gespreizten Fingern aus. Norbert und mein Vater wirken von der Schwere der Strafe ebenfalls überrascht.
Das Verlies? Er darf nicht in das Verlies! Nicht genau jetzt! Anna und ich schauen uns besorgt an. Er ist unser Weg aus dem Wald! Verdammt! Noch nie ist jemand in dort hinein geworfen worden.
Torwald ist im Moment die einzige Chance, einen Weg aus dem Wald zu finden. Wir müssen ihn befreien! Doch wie stellen wir das an? Unsere Väter werfen in den nächsten Tagen sicher ein genaues Auge auf uns.
Auf dem Rückweg stelle ich fest, wie Torwald vor uns fluchend in seinen Bart murmelt und zeitweise seinen Kopf dabei schüttelt. Er wird von zwei Erwachsenen begleitet. Vermutlich hat Valan die Sorge, dass er flüchtet. Anna hat Hannelore wieder auf dem Arm und ist neben ihrem Vater Norbert. Sie sieht angeschlagen und müde aus. Ihr Kleid schimmert im Licht der Fackeln. Es hat heute eine Menge abbekommen. Zu unserem Glück hat niemand ihre Verletzung am Arm bemerkt.
Wir sind im Dorf angekommen und ich verabschiede mich von Anna: »Bis Morgen.«
»Bis Morgen, Noel!«
»Das werden wir sehen« Vater stellt sich zwischen uns. »Wir haben noch ein ernstes Wort miteinander zu reden, mein Sohn!«
Er packt mich grob am Arm und wir stapfen zum Haus. Ich schenke Anna einen letzten Blick und rolle die Augen. Sie lächelt und hebt ihre Hand, wobei sie Daumen und Zeigefinger gegeneinander bewegt.
Zuhause kommt mir meine Mutter mit Tränen in den Augen entgegen und ruft: »Noel! Stellux, ich danke dir, dass du mich erhört hast! Da bist du endlich!«
»Es tut mir leid, Mutter.« Ich falle bedrückt in ihre Arme. »Wir waren mit Torwald unterwegs.«
Nach einer festen Umarmung schaut sie mich an und sagt: »Torwald? Halte dich bitte von ihm fern, Noel. Der Mann bringt doch nichts als Ärger!«
Mutter hat Angst, dass mir ein Unglück passiert. Ich würde ihr gerne erzählen, was wir heute erlebt haben. Das hätte aber zur Folge, dass ich bis zum achtzehnten Lebensjahr Hausarrest und einen persönlichen Wächter bekomme.
»Ich bin schwer enttäuscht, mein Sohn!«, sagt Vater. »Du hast mich heute Mittag angelogen. Norbert hat mit dir nicht über die Dinge außerhalb des Waldes gesprochen. Lügen ist sicherlich keine Eigenschaft die Stellux fordert, oder?«
Sein Blick richtet sich zu meiner Mutter. Er glaubt nicht an die Götter, hat aber genügend Informationen von ihr erhalten und setzt sie gerne gegen mich ein. Ja, es war eine Lüge und ich verabscheue es. Aber das war ein Notfall. Ich habe es satt, dass mir Vater ständig alles verbietet. Stellux ist sicher auf meiner Seite. Da sorge ich mich nicht.
»Wie wäre es, wenn du mir einmal die Wahrheit sagst? Dann würde es auch nicht so weit kommen. Deine Sturheit ist zum Kotzen. Ich fühle mich wie eines unserer Tiere. Gefangen. Abgeschottet von der Welt. Ich bin kein kleines Kind mehr, Vater.«
Tränen bahnen sich einen Weg über meine Wangen. Wut. Trauer. Verzweiflung. Ein Chaos der Gefühle entsteht in mir. Doch ich bin noch nicht fertig.
»Ich will raus – die Welt sehen! Sechzehn Jahre, Vater. Sechzehn Jahre lebe ich jetzt in diesem Dorf. Mein. Ganzes. Leben! Ist es zu viel verlang, wenigstens zu wissen, was es sonst noch auf der Welt gibt? Ich soll warten bis ich achtzehn Jahre alt bin? Bei Stellux, was für eine bescheuerte Regel ist das? Selbst als Mutter es mir sagen wollte, bleibst du stur. Ich hasse dich dafür!«
Das war befreiend. Ich sinke erschöpft zu Boden und wische mir die Tränen aus den Augen. Für einen Moment herrscht eine bedrückende Stille. Dann ergreift Vater das Wort. Er hat einen hochroten Kopf.
»Was fällt dir ein, so mit mir zu reden? Akzeptiere verdammt noch mal die Regeln in unserem Dorf. Es gibt nunmal Dinge, die sind noch nicht für deine Ohren bestimmt. Glaubst du mir fällt es leicht? Ich will euch auch nur beschützen.«
»Als ob es dir um uns geht. Alles, was dich interessiert ist dieses Dorf und seine dummen Regeln. Damit Valan ganz stolz auf dich ist.«
»Es reicht mein Sohn!« Seine Stimme wird lauter und er kommt zu mir.
»Lars, bitte«, reagiert Mutter und stellt sich schützend vor mich. »Der Junge hat heute viel durchgemacht und ist müde. Es ist bereits sehr spät. Ich bringe ihn zu Bett.«
»Selena, ich bitte dich!« Vater schwingt seine Hand in die Luft. »Du kannst den Jungen nicht jedes Mal ungeschoren davonkommen lassen. Das geht einfach nicht mehr!«
Mutter ignoriert die Worte meines Vaters und schlingt ihren rechten Arm um mich. Wir gehen auf mein Zimmer.
»Keine Sorge – ich rede mit deinem Vater. Aber bitte versprich mir, dass du mehr auf dich aufpasst und mir nicht immer solche Sorgen bereitest, in Ordnung?« Ihre Stimme ist besänftigend.
Ich nicke ihr zu. »In Ordnung, Mutter.«
»Sehr gut, Noel. Dann mach dich bitte ganz schnell bettfertig.«
Ich ziehe mich aus. Mutter diskutiert währenddessen lautstark mit Vater im Wohnraum. Mit dem Eimer und Lappen, den sie mir zurechtgelegt hat, wasche ich mich. Im Anschluss ziehe ich mir mein Nachthemd über. Erschöpft vom Streit und den Erlebnissen im Wald falle ich in mein Bett.

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